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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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sellschaft "als den jungen Deutschen vor, welcher der Erste in seiner Sprache
ihren unsterblichen Colombo besungen hat." Nun diese Worte sind ganz
wahr, und doch wurde ich roth bis in die Seele und schämte mich. Ge¬
wiß nicht deswegen, weil ich das Gedicht "Colombo" dichtete, aber ich
schämte mich. Die Salonsitte unserer Tage hat das antike: "Kenne dich
selbst" in ein: "Verläugne dich selbst" umgewandelt. Wenn die Athle¬
tin Seraphine ankündigt: Ich kann ein Hufeisen zerbrechen, so nennt sie
Niemand darum unbescheiden. Wenn es aber wer wagen wollte, sein geisti¬
ges Können anzukünden, er würde arrogant gescholten. "Ich habe ein
starkes Gedächtniß" darf sich jeder nachrühmen, aber er wage es nicht zu sagen:
"Ich habe das Talent ein schönes Bild zu malen, oder schön zu singen."
Und doch sind Gedächtniß und poetisches Talent Blutverwandte. Die Mu¬
sen sind die Töchter der Mnemosyne.

Wäre es nicht ein Fluch, wenn Alle erkennten, was einer vermag,
und nur er sollte es nicht! Die Kritik, und was weniger sagen will, der
gewöhnlichste Mensch, der nur lebhafte empfängliche Sinne hat, wäre so¬
mit begabter und erkenntnißreicher als das Talent. Er befände sich im um¬
gekehrten Falle, wie die Kassandra, und doch will es so der feine Ton.
Ein Ausspruch wie der Goethe's: "Nur die Lumpe sind bescheiden," sollte
von genialen Menschen öfter ausgesprochen werden. Wie lächerlich ist die
Phrase, die ein talentvoller Mensch jedesmal, wenn er nicht belächelt oder
verhöhnt sein will, zu jeder Talentanerkennung sagen muß: "O ich bitte!" --
"Sie sind zu gütig!"

Unter den Anwesenden fiel mir die Gestalt des genuesischen Maestro, den
ich nur aus Bildern kannte, vor Allem auf. Bei ihm stand eine kleine
Dame mit schwarzen seelentiefen Augen und so rothen Lippen, wie die Ko¬
rallen der See bei Genua. Es war eine savoyische Gräfin, die Verfasserin
eines geistreichen französischen Romans und italienischer Gedichte. Der Mar¬
chese stellte mich auf meinen Wunsch beiden besonders vor. Die Dame sagte
mir, sie habe mein Gedicht gelesen und die Seeschilderungen wahr gefunden.
Ich bemerkte, daß ich damals die See noch nicht gesehen, bloß die Phan¬
tasie habe mir die Bilder vorgespielt.

"Ach, die Phantasie!" nahm Paganini das Wort, "die weiß Alles,
nur glauben ihr die Menschen nicht, bis sie's mit den Händen greifen oder
mit den Ohren hören. Lange früher, ehe ich solche Töne aus meiner Geige
klingen machte, wie sie mir jetzt geläufig sind, habe ich sie in der Phanta¬
sie gehört. Sie waren noch nicht da, aber ich glaubte an sie und darum
wurden sie wirklich. Wir glauben zu wenig an das, was der Geist in
uns spricht, wir verwerfen es als leeres Spiel der Gedanken und darum
erreichen wir so wenig. Was der Geist denkt, hat er auch Kraft zu voll¬

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sellschaft „als den jungen Deutschen vor, welcher der Erste in seiner Sprache
ihren unsterblichen Colombo besungen hat.“ Nun diese Worte sind ganz
wahr, und doch wurde ich roth bis in die Seele und schämte mich. Ge¬
wiß nicht deswegen, weil ich das Gedicht „Colombo“ dichtete, aber ich
schämte mich. Die Salonsitte unserer Tage hat das antike: „Kenne dich
selbst“ in ein: „Verläugne dich selbst“ umgewandelt. Wenn die Athle¬
tin Seraphine ankündigt: Ich kann ein Hufeisen zerbrechen, so nennt sie
Niemand darum unbescheiden. Wenn es aber wer wagen wollte, sein geisti¬
ges Können anzukünden, er würde arrogant gescholten. „Ich habe ein
starkes Gedächtniß“ darf sich jeder nachrühmen, aber er wage es nicht zu sagen:
„Ich habe das Talent ein schönes Bild zu malen, oder schön zu singen.“
Und doch sind Gedächtniß und poetisches Talent Blutverwandte. Die Mu¬
sen sind die Töchter der Mnemosyne.

Wäre es nicht ein Fluch, wenn Alle erkennten, was einer vermag,
und nur er sollte es nicht! Die Kritik, und was weniger sagen will, der
gewöhnlichste Mensch, der nur lebhafte empfängliche Sinne hat, wäre so¬
mit begabter und erkenntnißreicher als das Talent. Er befände sich im um¬
gekehrten Falle, wie die Kassandra, und doch will es so der feine Ton.
Ein Ausspruch wie der Goethe's: „Nur die Lumpe sind bescheiden,“ sollte
von genialen Menschen öfter ausgesprochen werden. Wie lächerlich ist die
Phrase, die ein talentvoller Mensch jedesmal, wenn er nicht belächelt oder
verhöhnt sein will, zu jeder Talentanerkennung sagen muß: „O ich bitte!“ —
„Sie sind zu gütig!“

Unter den Anwesenden fiel mir die Gestalt des genuesischen Maestro, den
ich nur aus Bildern kannte, vor Allem auf. Bei ihm stand eine kleine
Dame mit schwarzen seelentiefen Augen und so rothen Lippen, wie die Ko¬
rallen der See bei Genua. Es war eine savoyische Gräfin, die Verfasserin
eines geistreichen französischen Romans und italienischer Gedichte. Der Mar¬
chese stellte mich auf meinen Wunsch beiden besonders vor. Die Dame sagte
mir, sie habe mein Gedicht gelesen und die Seeschilderungen wahr gefunden.
Ich bemerkte, daß ich damals die See noch nicht gesehen, bloß die Phan¬
tasie habe mir die Bilder vorgespielt.

„Ach, die Phantasie!“ nahm Paganini das Wort, „die weiß Alles,
nur glauben ihr die Menschen nicht, bis sie's mit den Händen greifen oder
mit den Ohren hören. Lange früher, ehe ich solche Töne aus meiner Geige
klingen machte, wie sie mir jetzt geläufig sind, habe ich sie in der Phanta¬
sie gehört. Sie waren noch nicht da, aber ich glaubte an sie und darum
wurden sie wirklich. Wir glauben zu wenig an das, was der Geist in
uns spricht, wir verwerfen es als leeres Spiel der Gedanken und darum
erreichen wir so wenig. Was der Geist denkt, hat er auch Kraft zu voll¬

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[95/0103] sellschaft „als den jungen Deutschen vor, welcher der Erste in seiner Sprache ihren unsterblichen Colombo besungen hat.“ Nun diese Worte sind ganz wahr, und doch wurde ich roth bis in die Seele und schämte mich. Ge¬ wiß nicht deswegen, weil ich das Gedicht „Colombo“ dichtete, aber ich schämte mich. Die Salonsitte unserer Tage hat das antike: „Kenne dich selbst“ in ein: „Verläugne dich selbst“ umgewandelt. Wenn die Athle¬ tin Seraphine ankündigt: Ich kann ein Hufeisen zerbrechen, so nennt sie Niemand darum unbescheiden. Wenn es aber wer wagen wollte, sein geisti¬ ges Können anzukünden, er würde arrogant gescholten. „Ich habe ein starkes Gedächtniß“ darf sich jeder nachrühmen, aber er wage es nicht zu sagen: „Ich habe das Talent ein schönes Bild zu malen, oder schön zu singen.“ Und doch sind Gedächtniß und poetisches Talent Blutverwandte. Die Mu¬ sen sind die Töchter der Mnemosyne. Wäre es nicht ein Fluch, wenn Alle erkennten, was einer vermag, und nur er sollte es nicht! Die Kritik, und was weniger sagen will, der gewöhnlichste Mensch, der nur lebhafte empfängliche Sinne hat, wäre so¬ mit begabter und erkenntnißreicher als das Talent. Er befände sich im um¬ gekehrten Falle, wie die Kassandra, und doch will es so der feine Ton. Ein Ausspruch wie der Goethe's: „Nur die Lumpe sind bescheiden,“ sollte von genialen Menschen öfter ausgesprochen werden. Wie lächerlich ist die Phrase, die ein talentvoller Mensch jedesmal, wenn er nicht belächelt oder verhöhnt sein will, zu jeder Talentanerkennung sagen muß: „O ich bitte!“ — „Sie sind zu gütig!“ Unter den Anwesenden fiel mir die Gestalt des genuesischen Maestro, den ich nur aus Bildern kannte, vor Allem auf. Bei ihm stand eine kleine Dame mit schwarzen seelentiefen Augen und so rothen Lippen, wie die Ko¬ rallen der See bei Genua. Es war eine savoyische Gräfin, die Verfasserin eines geistreichen französischen Romans und italienischer Gedichte. Der Mar¬ chese stellte mich auf meinen Wunsch beiden besonders vor. Die Dame sagte mir, sie habe mein Gedicht gelesen und die Seeschilderungen wahr gefunden. Ich bemerkte, daß ich damals die See noch nicht gesehen, bloß die Phan¬ tasie habe mir die Bilder vorgespielt. „Ach, die Phantasie!“ nahm Paganini das Wort, „die weiß Alles, nur glauben ihr die Menschen nicht, bis sie's mit den Händen greifen oder mit den Ohren hören. Lange früher, ehe ich solche Töne aus meiner Geige klingen machte, wie sie mir jetzt geläufig sind, habe ich sie in der Phanta¬ sie gehört. Sie waren noch nicht da, aber ich glaubte an sie und darum wurden sie wirklich. Wir glauben zu wenig an das, was der Geist in uns spricht, wir verwerfen es als leeres Spiel der Gedanken und darum erreichen wir so wenig. Was der Geist denkt, hat er auch Kraft zu voll¬ 13*

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-19T17:23:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Bayerische Staatbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Signatur Per 61 k-1). (2013-11-19T17:23:38Z)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/103>, abgerufen am 23.11.2024.