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Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844.

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§ 21 Mangelhafte Grundlage der Geometrie.
gänzlichen Umbau desselben nothwendig mache. Wenn ich eine
solche Behauptung aufstelle, welche den durch Jahrtausende gehei-
ligten Bau umzustürzen droht, so darf ich das nicht, ohne dieselbe
durch die entscheidendsten Gründe zu belegen. Das Gebrechen,
dessen Vorhandensein ich nachweisen will, ist am leichtesten am
Begriffe der Ebene zu erkennen. Wie dieselbe in den mir bekannt
gewordenen Bearbeitungen der Geometrie definirt wird, so liegt
dabei die Voraussetzung zu Grunde, dass eine gerade Linie, welche
zwei Punkte mit der Ebene gemeinschaftlich habe, ganz in dieselbe
falle; sei es nun, dass man dies stillschweigend annehme *), oder
in die Definition der Ebene hineinlege, oder endlich als besonde-
ren Grundsatz aufstelle. Das erstere zeigt sich sogleich als un-
wissenschaftlich; das zweite kann aber, wie ich sogleich zeigen
werde, eben so wenig auf Wissenschaftlichkeit Anspruch machen.
Denn es ist klar, dass die Ebene schon bestimmt ist, sei es als
Gesammtheit der Parallelen, welche von einer Geraden nach einer
nicht in derselben enthaltenen Richtung gezogen werden können,
sei es als Gesammtheit der Geraden, welche von einem Punkt an
eine Gerade gezogen werden können. Bleiben wir nun z. B. bei
der ersten Bestimmung stehen, so ist klar, wie nun erst erwiesen
werden muss, dass jede gerade Linie, welche zwei dieser Paralle-
len schneidet, auch die sämmtlichen übrigen schneiden müsse,
ein Satz, welcher nicht ohne eine Reihe von Hülfssätzen erwiesen
werden kann. Definirt man nun die Ebene etwa als Fläche, welche
alle gerade Linien, die zwei Punkte mit ihr gemeinschaftlich haben,
vollständig enthält, so leuchtet ein, wie man dadurch den vorher
ausgesprochenen Satz, unter dieser Definition versteckt, in das
Gebiet der Geometrie einschmuggelt; und eben so wenig, als es
sich irgend ein Mathematiker gefallen lassen würde, wenn man den
Beweis des Satzes, dass in Parallelogrammen die gegenüberstehen-
den Seiten gleich lang sind, dadurch vermeiden wollte, dass man
das Parallelogramm als Viereck, dessen gegenüberliegende Seiten
gleich und parallel sind, definirte; eben so wenig darf man es sich
gefallen lassen, wenn der oben angeführte Satz durch eine solche
Definition der Ebene unrechtmässiger Weise in die Geometrie ein-

*) So Euklid.
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§ 21 Mangelhafte Grundlage der Geometrie.
gänzlichen Umbau desselben nothwendig mache. Wenn ich eine
solche Behauptung aufstelle, welche den durch Jahrtausende gehei-
ligten Bau umzustürzen droht, so darf ich das nicht, ohne dieselbe
durch die entscheidendsten Gründe zu belegen. Das Gebrechen,
dessen Vorhandensein ich nachweisen will, ist am leichtesten am
Begriffe der Ebene zu erkennen. Wie dieselbe in den mir bekannt
gewordenen Bearbeitungen der Geometrie definirt wird, so liegt
dabei die Voraussetzung zu Grunde, dass eine gerade Linie, welche
zwei Punkte mit der Ebene gemeinschaftlich habe, ganz in dieselbe
falle; sei es nun, dass man dies stillschweigend annehme *), oder
in die Definition der Ebene hineinlege, oder endlich als besonde-
ren Grundsatz aufstelle. Das erstere zeigt sich sogleich als un-
wissenschaftlich; das zweite kann aber, wie ich sogleich zeigen
werde, eben so wenig auf Wissenschaftlichkeit Anspruch machen.
Denn es ist klar, dass die Ebene schon bestimmt ist, sei es als
Gesammtheit der Parallelen, welche von einer Geraden nach einer
nicht in derselben enthaltenen Richtung gezogen werden können,
sei es als Gesammtheit der Geraden, welche von einem Punkt an
eine Gerade gezogen werden können. Bleiben wir nun z. B. bei
der ersten Bestimmung stehen, so ist klar, wie nun erst erwiesen
werden muss, dass jede gerade Linie, welche zwei dieser Paralle-
len schneidet, auch die sämmtlichen übrigen schneiden müsse,
ein Satz, welcher nicht ohne eine Reihe von Hülfssätzen erwiesen
werden kann. Definirt man nun die Ebene etwa als Fläche, welche
alle gerade Linien, die zwei Punkte mit ihr gemeinschaftlich haben,
vollständig enthält, so leuchtet ein, wie man dadurch den vorher
ausgesprochenen Satz, unter dieser Definition versteckt, in das
Gebiet der Geometrie einschmuggelt; und eben so wenig, als es
sich irgend ein Mathematiker gefallen lassen würde, wenn man den
Beweis des Satzes, dass in Parallelogrammen die gegenüberstehen-
den Seiten gleich lang sind, dadurch vermeiden wollte, dass man
das Parallelogramm als Viereck, dessen gegenüberliegende Seiten
gleich und parallel sind, definirte; eben so wenig darf man es sich
gefallen lassen, wenn der oben angeführte Satz durch eine solche
Definition der Ebene unrechtmässiger Weise in die Geometrie ein-

*) So Euklid.
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[33/0069] § 21 Mangelhafte Grundlage der Geometrie. gänzlichen Umbau desselben nothwendig mache. Wenn ich eine solche Behauptung aufstelle, welche den durch Jahrtausende gehei- ligten Bau umzustürzen droht, so darf ich das nicht, ohne dieselbe durch die entscheidendsten Gründe zu belegen. Das Gebrechen, dessen Vorhandensein ich nachweisen will, ist am leichtesten am Begriffe der Ebene zu erkennen. Wie dieselbe in den mir bekannt gewordenen Bearbeitungen der Geometrie definirt wird, so liegt dabei die Voraussetzung zu Grunde, dass eine gerade Linie, welche zwei Punkte mit der Ebene gemeinschaftlich habe, ganz in dieselbe falle; sei es nun, dass man dies stillschweigend annehme *), oder in die Definition der Ebene hineinlege, oder endlich als besonde- ren Grundsatz aufstelle. Das erstere zeigt sich sogleich als un- wissenschaftlich; das zweite kann aber, wie ich sogleich zeigen werde, eben so wenig auf Wissenschaftlichkeit Anspruch machen. Denn es ist klar, dass die Ebene schon bestimmt ist, sei es als Gesammtheit der Parallelen, welche von einer Geraden nach einer nicht in derselben enthaltenen Richtung gezogen werden können, sei es als Gesammtheit der Geraden, welche von einem Punkt an eine Gerade gezogen werden können. Bleiben wir nun z. B. bei der ersten Bestimmung stehen, so ist klar, wie nun erst erwiesen werden muss, dass jede gerade Linie, welche zwei dieser Paralle- len schneidet, auch die sämmtlichen übrigen schneiden müsse, ein Satz, welcher nicht ohne eine Reihe von Hülfssätzen erwiesen werden kann. Definirt man nun die Ebene etwa als Fläche, welche alle gerade Linien, die zwei Punkte mit ihr gemeinschaftlich haben, vollständig enthält, so leuchtet ein, wie man dadurch den vorher ausgesprochenen Satz, unter dieser Definition versteckt, in das Gebiet der Geometrie einschmuggelt; und eben so wenig, als es sich irgend ein Mathematiker gefallen lassen würde, wenn man den Beweis des Satzes, dass in Parallelogrammen die gegenüberstehen- den Seiten gleich lang sind, dadurch vermeiden wollte, dass man das Parallelogramm als Viereck, dessen gegenüberliegende Seiten gleich und parallel sind, definirte; eben so wenig darf man es sich gefallen lassen, wenn der oben angeführte Satz durch eine solche Definition der Ebene unrechtmässiger Weise in die Geometrie ein- *) So Euklid. 3

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Zitationshilfe: Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grassmann_ausdehnungslehre_1844/69>, abgerufen am 02.05.2024.