dis Uebersicht gegenwärtig zu erhalten, und ihn in Stand zu setzen, selbststhätig und frei weiter fortzuschreiten. Dazu ist vielmehr nöthig, dass der Leser möglichst in denjenigen Zustand versetzt wird, in welchem der Entdecker der Wahrheit im günstigsten Falle sich befinden müsste. In demjenigen aber, der die Wahrheit auf- findet, findet ein stetes sich besinnen über den Gang der Entwicke- lung statt; es bildet sich in ihm eine eigenthümliche Gedankenreihe über den Weg, den er einzuschlagen hat, und über die Idee, welche dem Ganzen zu Grunde liegt; und diese Gedankenreihe bil- det den eigentlichen Kern und Geist seiner Thätigkeit, während die konsequente Auseinanderlegung der Wahrheiten nur die Ver- körperung jener Idee ist. Dem Leser nun zumuthen wollen, dass er, ohne zu solchen Gedankenreihen angeleitet zu sein, dennoch auf dem Wege der Entdeckung selbstständig fortschreiten sollte, heisst ihn über den Entdecker der Wahrheit selbst stellen, und somit das Verhältniss zwischen ihm und dem Verfasser umkehren, wobei dann die ganze Abfassung des Werkes als überflüssig erscheint. Daher haben denn auch neuere Mathematiker und namentlich die Franzosen angefangen, beide Entwickelungsreihen zu verweben. Das Anziehende, was dadurch ihre Werke bekommen haben, besteht eben darin, dass der Leser sich frei fühlt und nicht einge- zwängt ist in Formen, denen er, weil er sie nicht beherrscht, knechtisch folgen muss. Das nun in der Mathematik diese Ent- wickelungsreihen am schärfsten aus einander treten, liegt in der Eigenthümlichkeit ihrer Methode (Nr. 13); da sie nämlich vom Besondern aus durch Verkettung fortschreitet, so ist die Einheit der Idee das letzte. Daher trägt die zweite Entwickelungsreihe einen ganz entgegengesetzten Charakter an sich wie die erste, und die Durchdringung beider erscheint schwieriger, wie in irgend einer andern Wissenschaft. Um dieser Schwierigkeit willen darf man aber doch nicht, wie es von den deutschen Mathematikern häufig geschieht, das ganze Verfahren aufgeben und verwerfen.
In dem vorliegenden Werke habe ich daher den angedeuteten Weg eingeschlagen, und es schien mir dies bei einer neuen Wis- senschaft um so nothwendiger, als eben zugleich die Idee derselben zuerst ans Licht treten soll.
Einleitung.
dis Uebersicht gegenwärtig zu erhalten, und ihn in Stand zu setzen, selbststhätig und frei weiter fortzuschreiten. Dazu ist vielmehr nöthig, dass der Leser möglichst in denjenigen Zustand versetzt wird, in welchem der Entdecker der Wahrheit im günstigsten Falle sich befinden müsste. In demjenigen aber, der die Wahrheit auf- findet, findet ein stetes sich besinnen über den Gang der Entwicke- lung statt; es bildet sich in ihm eine eigenthümliche Gedankenreihe über den Weg, den er einzuschlagen hat, und über die Idee, welche dem Ganzen zu Grunde liegt; und diese Gedankenreihe bil- det den eigentlichen Kern und Geist seiner Thätigkeit, während die konsequente Auseinanderlegung der Wahrheiten nur die Ver- körperung jener Idee ist. Dem Leser nun zumuthen wollen, dass er, ohne zu solchen Gedankenreihen angeleitet zu sein, dennoch auf dem Wege der Entdeckung selbstständig fortschreiten sollte, heisst ihn über den Entdecker der Wahrheit selbst stellen, und somit das Verhältniss zwischen ihm und dem Verfasser umkehren, wobei dann die ganze Abfassung des Werkes als überflüssig erscheint. Daher haben denn auch neuere Mathematiker und namentlich die Franzosen angefangen, beide Entwickelungsreihen zu verweben. Das Anziehende, was dadurch ihre Werke bekommen haben, besteht eben darin, dass der Leser sich frei fühlt und nicht einge- zwängt ist in Formen, denen er, weil er sie nicht beherrscht, knechtisch folgen muss. Das nun in der Mathematik diese Ent- wickelungsreihen am schärfsten aus einander treten, liegt in der Eigenthümlichkeit ihrer Methode (Nr. 13); da sie nämlich vom Besondern aus durch Verkettung fortschreitet, so ist die Einheit der Idee das letzte. Daher trägt die zweite Entwickelungsreihe einen ganz entgegengesetzten Charakter an sich wie die erste, und die Durchdringung beider erscheint schwieriger, wie in irgend einer andern Wissenschaft. Um dieser Schwierigkeit willen darf man aber doch nicht, wie es von den deutschen Mathematikern häufig geschieht, das ganze Verfahren aufgeben und verwerfen.
In dem vorliegenden Werke habe ich daher den angedeuteten Weg eingeschlagen, und es schien mir dies bei einer neuen Wis- senschaft um so nothwendiger, als eben zugleich die Idee derselben zuerst ans Licht treten soll.
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[XXXII/0036]
Einleitung.
dis Uebersicht gegenwärtig zu erhalten, und ihn in Stand zu setzen,
selbststhätig und frei weiter fortzuschreiten. Dazu ist vielmehr
nöthig, dass der Leser möglichst in denjenigen Zustand versetzt
wird, in welchem der Entdecker der Wahrheit im günstigsten Falle
sich befinden müsste. In demjenigen aber, der die Wahrheit auf-
findet, findet ein stetes sich besinnen über den Gang der Entwicke-
lung statt; es bildet sich in ihm eine eigenthümliche Gedankenreihe
über den Weg, den er einzuschlagen hat, und über die Idee,
welche dem Ganzen zu Grunde liegt; und diese Gedankenreihe bil-
det den eigentlichen Kern und Geist seiner Thätigkeit, während
die konsequente Auseinanderlegung der Wahrheiten nur die Ver-
körperung jener Idee ist. Dem Leser nun zumuthen wollen, dass
er, ohne zu solchen Gedankenreihen angeleitet zu sein, dennoch auf
dem Wege der Entdeckung selbstständig fortschreiten sollte, heisst
ihn über den Entdecker der Wahrheit selbst stellen, und somit
das Verhältniss zwischen ihm und dem Verfasser umkehren, wobei
dann die ganze Abfassung des Werkes als überflüssig erscheint.
Daher haben denn auch neuere Mathematiker und namentlich die
Franzosen angefangen, beide Entwickelungsreihen zu verweben.
Das Anziehende, was dadurch ihre Werke bekommen haben,
besteht eben darin, dass der Leser sich frei fühlt und nicht einge-
zwängt ist in Formen, denen er, weil er sie nicht beherrscht,
knechtisch folgen muss. Das nun in der Mathematik diese Ent-
wickelungsreihen am schärfsten aus einander treten, liegt in der
Eigenthümlichkeit ihrer Methode (Nr. 13); da sie nämlich vom
Besondern aus durch Verkettung fortschreitet, so ist die Einheit
der Idee das letzte. Daher trägt die zweite Entwickelungsreihe
einen ganz entgegengesetzten Charakter an sich wie die erste, und
die Durchdringung beider erscheint schwieriger, wie in irgend
einer andern Wissenschaft. Um dieser Schwierigkeit willen darf
man aber doch nicht, wie es von den deutschen Mathematikern
häufig geschieht, das ganze Verfahren aufgeben und verwerfen.
In dem vorliegenden Werke habe ich daher den angedeuteten
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Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844, S. XXXII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grassmann_ausdehnungslehre_1844/36>, abgerufen am 24.11.2024.
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