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Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844.

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Einleitung.
zu einem verwandten Zweige durchweg hervorzuheben, und so eine
fortlaufende Analogie mit diesem Zweige zu ziehen *). Die Ahnung
scheint dem Gebiet der reinen Wissenschaft fremd zu sein und am
allermeisten dem mathematischen. Allein ohne sie ist es unmög-
lich, irgend eine neue Wahrheit aufzufinden; durch blinde Kombina-
tion der gewonnenen Resultate gelangt man nicht dazu; sondern,
was man zu kombiniren hat und auf welche Weise, muss durch
die leitende Idee bestimmt sein, und diese Idee wiederum kann,
ehe sie sich durch die Wissenschaft selbst verwirklicht hat, nur in
der Form der Ahnung erschienen. Es ist daher diese Ahnung auf
dem wissenschaftlichen Gebiet etwas unentbehrliches. Sie ist näm-
lich, wenn sie von rechter Art ist, das in eins zusammenschauen
der ganzen Entwickelungsreihe, die zu der neuen Wahrheit führt,
aber mit noch nicht aus einander gelegten Momenten der Entwicke-
lung und daher auch im Anfang nur erst als dunkles Vorgefühl;
die Auseinanderlegung jener Momente enthält zugleich die Auffin-
dung der Wahrheit und die Kritik jenes Vorgefühls.

16. Daher ist die wissenschaftliche Darstellung ihrem Wesen
nach ein Ineinandergreifen zweier Entwickelungsreihen, von denen
die eine mit Konsequenz von einer Wahrheit zur andern führt, und
den eigentlichen Inhalt bildet, die andere aber das Verfahren selbst
beherrscht und die Form bestimmt. In der Mathematik treten diese
beiden Entwickelungsreihen am schärfsten aus einander.

Es ist in der Mathematik schon lange, und Euklid selbst hat
darin das Vorbild gegeben, Sitte gewesen, nur die eine Entwicke-
lungsreihe, welche den eigentlichen Inhalt bildet hervortreten zu
lassen in Bezug auf die andere aber es dem Leser zu überlassen,
sie zwischen den Zeilen herauszulesen. Allein wie vollendet auch
die Anordnung und Darstellung jener Entwickelungsreihe sein mag:
so ist es doch unmöglich, dadurch demjenigen, der die Wissenschaft
erst kennen lernen soll, schon auf jedem Punkte der Entwickelung

*) Dieser Fall tritt bei der hier zu behandelnden Wissenschaft in Bezug auf
die Geometrie ein, weshalb ich den Weg zur Analogie meist vorgezogen habe.

Einleitung.
zu einem verwandten Zweige durchweg hervorzuheben, und so eine
fortlaufende Analogie mit diesem Zweige zu ziehen *). Die Ahnung
scheint dem Gebiet der reinen Wissenschaft fremd zu sein und am
allermeisten dem mathematischen. Allein ohne sie ist es unmög-
lich, irgend eine neue Wahrheit aufzufinden; durch blinde Kombina-
tion der gewonnenen Resultate gelangt man nicht dazu; sondern,
was man zu kombiniren hat und auf welche Weise, muss durch
die leitende Idee bestimmt sein, und diese Idee wiederum kann,
ehe sie sich durch die Wissenschaft selbst verwirklicht hat, nur in
der Form der Ahnung erschienen. Es ist daher diese Ahnung auf
dem wissenschaftlichen Gebiet etwas unentbehrliches. Sie ist näm-
lich, wenn sie von rechter Art ist, das in eins zusammenschauen
der ganzen Entwickelungsreihe, die zu der neuen Wahrheit führt,
aber mit noch nicht aus einander gelegten Momenten der Entwicke-
lung und daher auch im Anfang nur erst als dunkles Vorgefühl;
die Auseinanderlegung jener Momente enthält zugleich die Auffin-
dung der Wahrheit und die Kritik jenes Vorgefühls.

16. Daher ist die wissenschaftliche Darstellung ihrem Wesen
nach ein Ineinandergreifen zweier Entwickelungsreihen, von denen
die eine mit Konsequenz von einer Wahrheit zur andern führt, und
den eigentlichen Inhalt bildet, die andere aber das Verfahren selbst
beherrscht und die Form bestimmt. In der Mathematik treten diese
beiden Entwickelungsreihen am schärfsten aus einander.

Es ist in der Mathematik schon lange, und Euklid selbst hat
darin das Vorbild gegeben, Sitte gewesen, nur die eine Entwicke-
lungsreihe, welche den eigentlichen Inhalt bildet hervortreten zu
lassen in Bezug auf die andere aber es dem Leser zu überlassen,
sie zwischen den Zeilen herauszulesen. Allein wie vollendet auch
die Anordnung und Darstellung jener Entwickelungsreihe sein mag:
so ist es doch unmöglich, dadurch demjenigen, der die Wissenschaft
erst kennen lernen soll, schon auf jedem Punkte der Entwickelung

*) Dieser Fall tritt bei der hier zu behandelnden Wissenschaft in Bezug auf
die Geometrie ein, weshalb ich den Weg zur Analogie meist vorgezogen habe.
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[XXXI/0035] Einleitung. zu einem verwandten Zweige durchweg hervorzuheben, und so eine fortlaufende Analogie mit diesem Zweige zu ziehen *). Die Ahnung scheint dem Gebiet der reinen Wissenschaft fremd zu sein und am allermeisten dem mathematischen. Allein ohne sie ist es unmög- lich, irgend eine neue Wahrheit aufzufinden; durch blinde Kombina- tion der gewonnenen Resultate gelangt man nicht dazu; sondern, was man zu kombiniren hat und auf welche Weise, muss durch die leitende Idee bestimmt sein, und diese Idee wiederum kann, ehe sie sich durch die Wissenschaft selbst verwirklicht hat, nur in der Form der Ahnung erschienen. Es ist daher diese Ahnung auf dem wissenschaftlichen Gebiet etwas unentbehrliches. Sie ist näm- lich, wenn sie von rechter Art ist, das in eins zusammenschauen der ganzen Entwickelungsreihe, die zu der neuen Wahrheit führt, aber mit noch nicht aus einander gelegten Momenten der Entwicke- lung und daher auch im Anfang nur erst als dunkles Vorgefühl; die Auseinanderlegung jener Momente enthält zugleich die Auffin- dung der Wahrheit und die Kritik jenes Vorgefühls. 16. Daher ist die wissenschaftliche Darstellung ihrem Wesen nach ein Ineinandergreifen zweier Entwickelungsreihen, von denen die eine mit Konsequenz von einer Wahrheit zur andern führt, und den eigentlichen Inhalt bildet, die andere aber das Verfahren selbst beherrscht und die Form bestimmt. In der Mathematik treten diese beiden Entwickelungsreihen am schärfsten aus einander. Es ist in der Mathematik schon lange, und Euklid selbst hat darin das Vorbild gegeben, Sitte gewesen, nur die eine Entwicke- lungsreihe, welche den eigentlichen Inhalt bildet hervortreten zu lassen in Bezug auf die andere aber es dem Leser zu überlassen, sie zwischen den Zeilen herauszulesen. Allein wie vollendet auch die Anordnung und Darstellung jener Entwickelungsreihe sein mag: so ist es doch unmöglich, dadurch demjenigen, der die Wissenschaft erst kennen lernen soll, schon auf jedem Punkte der Entwickelung *) Dieser Fall tritt bei der hier zu behandelnden Wissenschaft in Bezug auf die Geometrie ein, weshalb ich den Weg zur Analogie meist vorgezogen habe.

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Zitationshilfe: Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844, S. XXXI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grassmann_ausdehnungslehre_1844/35>, abgerufen am 27.04.2024.