Kaum war dieses erdacht, als man gar dreyfache Reime machte: Z. E.
Vos estis, Deus est testis! teterrima pestis.
Und auch darüber fanden sich noch andre Künstler, die ihre Vorgänger in der Reimsucht übertreffen wollten, indem sie eine noch künstlichere Verschränckung der gereimten Zeilen erdachten, wie dieß Exempel zeigen wird:
So wurden denn die Verße selbst bey so vielen Reimen un- sichtbar, und die eingebildeten Poeten wurden nichts als elen- de Reimschmiede, die sich an dem Klappen der Sylben, wie Kinder an dem Klingen der Schellen belustigten.
Bey dem allen aber bleibt es wohl gewiß, daß die Scy- thischen oder Celtischen Völcker, das ist unsre Vorfahren und die Barden derselben als ihre Poeten, etwa um die Zeiten Taciti, auch wohl noch zeitiger, die Reime in ihren Liedern eingeführet, damit ihre Landesleute das Lob ihrer Helden desto leichter lernen und desto besser behalten möchten. Denn weil an Schreibern damahls ein grosser Mangel war, und das Gedächtniß die Stelle der Chronicken vertreten muste: so waren die gereimten Lieder sehr geschickt das Auswendigler- nen zu befördern. Alle Sprichwörter unsrer Alten zeigen davon. Diese hielten den Kern ihrer moralischen und politi- schen Klugheit in sich, und wurden der Jugend gleichsam mit der Mutter-Milch eingeflösset; aber zu desto grösserer Er- leichterung des Gedächtnisses in Reimen verfasset: Z. E.
Freunde in der Noth Gehn hundert auf ein Loth.
Je krümer Holtz, ie besser Krück; Je ärger Schelm, ie besser Glück.
Auf einen groben Ast Gehört ein grober Quast. u. d. gl.
Doch die Sache ist so ausgemacht, daß sie keines fernern Beweises vonnöthen hat.
Wie
E
und Wachsthume der Poeſie.
Kaum war dieſes erdacht, als man gar dreyfache Reime machte: Z. E.
Vos eſtis, Deus eſt teſtis! teterrima peſtis.
Und auch daruͤber fanden ſich noch andre Kuͤnſtler, die ihre Vorgaͤnger in der Reimſucht uͤbertreffen wollten, indem ſie eine noch kuͤnſtlichere Verſchraͤnckung der gereimten Zeilen erdachten, wie dieß Exempel zeigen wird:
So wurden denn die Verße ſelbſt bey ſo vielen Reimen un- ſichtbar, und die eingebildeten Poeten wurden nichts als elen- de Reimſchmiede, die ſich an dem Klappen der Sylben, wie Kinder an dem Klingen der Schellen beluſtigten.
Bey dem allen aber bleibt es wohl gewiß, daß die Scy- thiſchen oder Celtiſchen Voͤlcker, das iſt unſre Vorfahren und die Barden derſelben als ihre Poeten, etwa um die Zeiten Taciti, auch wohl noch zeitiger, die Reime in ihren Liedern eingefuͤhret, damit ihre Landesleute das Lob ihrer Helden deſto leichter lernen und deſto beſſer behalten moͤchten. Denn weil an Schreibern damahls ein groſſer Mangel war, und das Gedaͤchtniß die Stelle der Chronicken vertreten muſte: ſo waren die gereimten Lieder ſehr geſchickt das Auswendigler- nen zu befoͤrdern. Alle Sprichwoͤrter unſrer Alten zeigen davon. Dieſe hielten den Kern ihrer moraliſchen und politi- ſchen Klugheit in ſich, und wurden der Jugend gleichſam mit der Mutter-Milch eingefloͤſſet; aber zu deſto groͤſſerer Er- leichterung des Gedaͤchtniſſes in Reimen verfaſſet: Z. E.
Freunde in der Noth Gehn hundert auf ein Loth.
Je kruͤmer Holtz, ie beſſer Kruͤck; Je aͤrger Schelm, ie beſſer Gluͤck.
Auf einen groben Aſt Gehoͤrt ein grober Quaſt. u. d. gl.
Doch die Sache iſt ſo ausgemacht, daß ſie keines fernern Beweiſes vonnoͤthen hat.
Wie
E
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und Wachsthume der Poeſie.
Kaum war dieſes erdacht, als man gar dreyfache Reime
machte: Z. E.
Vos eſtis, Deus eſt teſtis! teterrima peſtis.
Und auch daruͤber fanden ſich noch andre Kuͤnſtler, die ihre
Vorgaͤnger in der Reimſucht uͤbertreffen wollten, indem ſie
eine noch kuͤnſtlichere Verſchraͤnckung der gereimten Zeilen
erdachten, wie dieß Exempel zeigen wird:
Janua mortis, paſſio fortis, crimen eorum
Attulit orbi, ſemina morbi, totque malorum.
So wurden denn die Verße ſelbſt bey ſo vielen Reimen un-
ſichtbar, und die eingebildeten Poeten wurden nichts als elen-
de Reimſchmiede, die ſich an dem Klappen der Sylben, wie
Kinder an dem Klingen der Schellen beluſtigten.
Bey dem allen aber bleibt es wohl gewiß, daß die Scy-
thiſchen oder Celtiſchen Voͤlcker, das iſt unſre Vorfahren
und die Barden derſelben als ihre Poeten, etwa um die Zeiten
Taciti, auch wohl noch zeitiger, die Reime in ihren Liedern
eingefuͤhret, damit ihre Landesleute das Lob ihrer Helden deſto
leichter lernen und deſto beſſer behalten moͤchten. Denn weil
an Schreibern damahls ein groſſer Mangel war, und das
Gedaͤchtniß die Stelle der Chronicken vertreten muſte: ſo
waren die gereimten Lieder ſehr geſchickt das Auswendigler-
nen zu befoͤrdern. Alle Sprichwoͤrter unſrer Alten zeigen
davon. Dieſe hielten den Kern ihrer moraliſchen und politi-
ſchen Klugheit in ſich, und wurden der Jugend gleichſam mit
der Mutter-Milch eingefloͤſſet; aber zu deſto groͤſſerer Er-
leichterung des Gedaͤchtniſſes in Reimen verfaſſet: Z. E.
Freunde in der Noth
Gehn hundert auf ein Loth.
Je kruͤmer Holtz, ie beſſer Kruͤck;
Je aͤrger Schelm, ie beſſer Gluͤck.
Auf einen groben Aſt
Gehoͤrt ein grober Quaſt. u. d. gl.
Doch die Sache iſt ſo ausgemacht, daß ſie keines fernern
Beweiſes vonnoͤthen hat.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/93>, abgerufen am 24.11.2024.
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