Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Wie sonst ein Vogler offt, wenn er nach Amseln stellt, Aus Unvorsichtigkeit in Brunn und Grube fällt So stürtzt sich ein Poet, der hohe Verse speyet, Offt selber in Gefahr. Gesetzt nun das man schreyet: 655Jhr Leute! rettet, helft! Jst doch kein Mensch zu sehn. Wer weiß auch in der That, obs nicht mit Fleiß geschehn? Und ob er auch einmahl, wenn man ihm helfen wollte, Das zugeworfne Seil, mit Danck ergreifen sollte? Er kommt mit Willen um. Jch spreche nicht zu scharf. 660Wie sich Empedocles in Aetnens Klüffte warf, Als ihm das kalte Blut so melancholisch worden, Daß er dadurch verhofft zum hohen Götter-Orden, Sich selber zu erhöhn: So geht es hier wohl an. Man laß es ihm denn zu, daß er verderben kan. 660 Wer die Pest hätten. Quem iracunda Diana urget, schreibt der Poet. Man schreibt nehmlich die Ursache dieses Ubels dem Monden zu, der unter dem Nahmen der Dia- na verehret wurde. Flemming beschreibt diese Kranckheit schön: Vermag denn dieß ein Dampf, der uns bey Schlaf und Nacht, 660 Empedocles. Ein Philosophns und Poet in Sicilien, der noch vor Ari- stotele gelebt, und ein poetisches Werck von der Naturlehre geschrieben; wie nach- mahls Lucretius im lateinischen gethan. Aristoteles will ihm deßwegen den Nah- men eines Poeten nicht zugestehen, weil er mit dem Homer nichts als die Verße gemein hat, welche aber nur das Aussenwerck der Poesie sind. Man beschuldigt den Empedocles, daß er gern vergöttert worden wäre, weswegen er sich in den Feuer speyenden Berg Aetna gestürtzet, damit man nicht wissen könnte wo er hin- gekom- D 3
Wie ſonſt ein Vogler offt, wenn er nach Amſeln ſtellt, Aus Unvorſichtigkeit in Brunn und Grube faͤllt So ſtuͤrtzt ſich ein Poet, der hohe Verſe ſpeyet, Offt ſelber in Gefahr. Geſetzt nun das man ſchreyet: 655Jhr Leute! rettet, helft! Jſt doch kein Menſch zu ſehn. Wer weiß auch in der That, obs nicht mit Fleiß geſchehn? Und ob er auch einmahl, wenn man ihm helfen wollte, Das zugeworfne Seil, mit Danck ergreifen ſollte? Er kommt mit Willen um. Jch ſpreche nicht zu ſcharf. 660Wie ſich Empedocles in Aetnens Kluͤffte warf, Als ihm das kalte Blut ſo melancholiſch worden, Daß er dadurch verhofft zum hohen Goͤtter-Orden, Sich ſelber zu erhoͤhn: So geht es hier wohl an. Man laß es ihm denn zu, daß er verderben kan. 660 Wer die Peſt haͤtten. Quem iracunda Diana urget, ſchreibt der Poet. Man ſchreibt nehmlich die Urſache dieſes Ubels dem Monden zu, der unter dem Nahmen der Dia- na verehret wurde. Flemming beſchreibt dieſe Kranckheit ſchoͤn: Vermag denn dieß ein Dampf, der uns bey Schlaf und Nacht, 660 Empedocles. Ein Philoſophns und Poet in Sicilien, der noch vor Ari- ſtotele gelebt, und ein poetiſches Werck von der Naturlehre geſchrieben; wie nach- mahls Lucretius im lateiniſchen gethan. Ariſtoteles will ihm deßwegen den Nah- men eines Poeten nicht zugeſtehen, weil er mit dem Homer nichts als die Verße gemein hat, welche aber nur das Auſſenwerck der Poeſie ſind. Man beſchuldigt den Empedocles, daß er gern vergoͤttert worden waͤre, weswegen er ſich in den Feuer ſpeyenden Berg Aetna geſtuͤrtzet, damit man nicht wiſſen koͤnnte wo er hin- gekom- D 3
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Horatius von der Dicht-Kunſt.
Wird er der kleinen Zahl der Dichter beygezehlet.
Wie ſonſt ein Vogler offt, wenn er nach Amſeln ſtellt,
Aus Unvorſichtigkeit in Brunn und Grube faͤllt
So ſtuͤrtzt ſich ein Poet, der hohe Verſe ſpeyet,
Offt ſelber in Gefahr. Geſetzt nun das man ſchreyet:
Jhr Leute! rettet, helft! Jſt doch kein Menſch zu ſehn.
Wer weiß auch in der That, obs nicht mit Fleiß geſchehn?
Und ob er auch einmahl, wenn man ihm helfen wollte,
Das zugeworfne Seil, mit Danck ergreifen ſollte?
Er kommt mit Willen um. Jch ſpreche nicht zu ſcharf.
Wie ſich Empedocles in Aetnens Kluͤffte warf,
Als ihm das kalte Blut ſo melancholiſch worden,
Daß er dadurch verhofft zum hohen Goͤtter-Orden,
Sich ſelber zu erhoͤhn: So geht es hier wohl an.
Man laß es ihm denn zu, daß er verderben kan.
Wer
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646 die Peſt haͤtten. Quem iracunda Diana urget, ſchreibt der Poet. Man ſchreibt
nehmlich die Urſache dieſes Ubels dem Monden zu, der unter dem Nahmen der Dia-
na verehret wurde. Flemming beſchreibt dieſe Kranckheit ſchoͤn:
Vermag denn dieß ein Dampf, der uns bey Schlaf und Nacht,
Umnebelt Seel und Sinn? Der uns zu Schwaͤrmern macht,
Jm Schlafen ohne Schlaf, im Ruhen ohne Raſten?
Der klettert hin und her an Thuͤren in Pallaſten.
Der will der Lunen nach in unbepfaͤlter Lufft,
Steigt friſch dem Giebel zu. Der Schmied ergreift den Hammer,
Und laͤufft zum Amboß hin, der Zimmermann die Klammer.
Der ſchwimmet durch den Strohm, erleget ſeinen Feind,
Der macht ſich auf den Weg, eh Phoſphorus noch ſcheint,
Der ſetzt ſich auf das Holtz, und meynet wegzureiten,
Giebt friſch der Wand den Sporn. Der faͤnget an zu ſtreiten
Und brauchet ſeiner Fauſt: Der zeucht ſich auf das Hauß,
Jm Kloben kuͤhnlich an, und nimmt die Elſtern aus.
Wie auch viel andre mehr, die ſchlafend das beginnen,
Was niemand wachend kan.
660 Empedocles. Ein Philoſophns und Poet in Sicilien, der noch vor Ari-
ſtotele gelebt, und ein poetiſches Werck von der Naturlehre geſchrieben; wie nach-
mahls Lucretius im lateiniſchen gethan. Ariſtoteles will ihm deßwegen den Nah-
men eines Poeten nicht zugeſtehen, weil er mit dem Homer nichts als die Verße
gemein hat, welche aber nur das Auſſenwerck der Poeſie ſind. Man beſchuldigt
den Empedocles, daß er gern vergoͤttert worden waͤre, weswegen er ſich in den
Feuer ſpeyenden Berg Aetna geſtuͤrtzet, damit man nicht wiſſen koͤnnte wo er hin-
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