Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Horatius von der Dicht-Kunst.
635Am Rande, wo der Vers was ungeschicktes zeigt.
Er meistert allen Schmuck der gar zu prächtig steigt.
Was unverständlich ist, das heist er klärer machen,
Bestraft den Doppelsinn und wird in allen Sachen
Ein andrer Aristarch. Er fragt nicht Kummer-voll,
640Warum er einen Freund um nichts verschertzen soll?

So schlecht dieß alles scheint, so wirckt es doch zu Zeiten
Jn Wahrheit etwas mehr, als schlechte Kleinigkeiten.
Dein schmeicheln macht ihn stoltz, dein höflicher Betrug
Bläst einen Dichter auf: so wird er nimmer klug.
645Und wie man Leute fleucht, die sich die Krätze schaben,

Die Gelbsucht, Raserey, und Monden-Kranckheit haben;
So wird ein kluger Mensch, vor tollen Dichtern fliehn,
Die Knaben werden ihn, zum Hohngelächter ziehn:
Nur von der dummen Schaar, der Witz und Vorsicht fehlet,
639
640
642
646

Wird
andre Criticos. Sie haben dreyerley Pflichten zu beobachten. Sie müssen ver-
bessern, ausmustern und hinzusetzen. Hieher läßt sich alles übrige ziehen. Die
Mattigkeit, Härte, Ungeschicklichkeit, Schwülstigkeit, Dunckelheit, Zweydeu-
tigkeit u. d. g. das sind die gewöhnlichen Fehler der Gedichte. Darauf hat ein gründ-
licher Censor am meisten zu sehen. Und dieses pflegt in der trefflichen Deutschen
Gesellschafft allhier fleißig zu geschehen.
639 Aristarch. Das war ein grosser Criticus, der zu den Zeiten Ptolomäi
Philadelphi gelebt. Er hat vier und zwanzig Bücher Erklärungen über Homerum,
Aristophanem und andre griechische Poeten geschrieben. Es ist Schade, daß diesel-
ben verlohren worden. Er hat eine so scharse Beurtheilungs-Krafft im Critisiren
gewiesen, daß man ihn einen Propheten genennet; weil ihm das verborgenste klar
und entdeckt geschienen.
640 Um nichts verschertzen soll. So machens die Schmeichler. Warum
soll ich mir meinen Freund zum Feinde machen? fragen sie. Es mag immer gut
seyn. Jch will ihnen ihr Vergnügen nicht stören. Aber das thut nach Horatii
Regel kein vir bonus & prudens.
642 Mehr als Kleinigkeiten. Dieß ist sehr vernünftig gesprochen. Kleine
Dinge ziehen vielmahl was grosses nach sich. Die Schmeicheley gegen einen Poe-
ten macht ihn stoltz. Der Stoltz lehrt ihn hernach alles andre verachten, ja er selbst
wird bey Kennern auslachens würdig. Das ärgste ist, daß solche Leute hernach
gar aufhören Lehre anzunehmen. Sie halten sich schon vor vollkommen: darum
wollen sie sich nicht mehr bessern wenn sie gleich könnten. Jst das nicht zu bedauren?
646 Die Monden-Kranckheit oder Mondsucht. Die Alten glaubten daß
alle diese Kranckheiten ansteckend wären, darum floh man alle diese Leute, als ob sie
gar

Horatius von der Dicht-Kunſt.
635Am Rande, wo der Vers was ungeſchicktes zeigt.
Er meiſtert allen Schmuck der gar zu praͤchtig ſteigt.
Was unverſtaͤndlich iſt, das heiſt er klaͤrer machen,
Beſtraft den Doppelſinn und wird in allen Sachen
Ein andrer Ariſtarch. Er fragt nicht Kummer-voll,
640Warum er einen Freund um nichts verſchertzen ſoll?

So ſchlecht dieß alles ſcheint, ſo wirckt es doch zu Zeiten
Jn Wahrheit etwas mehr, als ſchlechte Kleinigkeiten.
Dein ſchmeicheln macht ihn ſtoltz, dein hoͤflicher Betrug
Blaͤſt einen Dichter auf: ſo wird er nimmer klug.
645Und wie man Leute fleucht, die ſich die Kraͤtze ſchaben,

Die Gelbſucht, Raſerey, und Monden-Kranckheit haben;
So wird ein kluger Menſch, vor tollen Dichtern fliehn,
Die Knaben werden ihn, zum Hohngelaͤchter ziehn:
Nur von der dummen Schaar, der Witz und Vorſicht fehlet,
639
640
642
646

Wird
andre Criticos. Sie haben dreyerley Pflichten zu beobachten. Sie muͤſſen ver-
beſſern, ausmuſtern und hinzuſetzen. Hieher laͤßt ſich alles uͤbrige ziehen. Die
Mattigkeit, Haͤrte, Ungeſchicklichkeit, Schwuͤlſtigkeit, Dunckelheit, Zweydeu-
tigkeit u. d. g. das ſind die gewoͤhnlichen Fehler der Gedichte. Darauf hat ein gruͤnd-
licher Cenſor am meiſten zu ſehen. Und dieſes pflegt in der trefflichen Deutſchen
Geſellſchafft allhier fleißig zu geſchehen.
639 Ariſtarch. Das war ein groſſer Criticus, der zu den Zeiten Ptolomaͤi
Philadelphi gelebt. Er hat vier und zwanzig Buͤcher Erklaͤrungen uͤber Homerum,
Ariſtophanem und andre griechiſche Poeten geſchrieben. Es iſt Schade, daß dieſel-
ben verlohren worden. Er hat eine ſo ſcharſe Beurtheilungs-Krafft im Critiſiren
gewieſen, daß man ihn einen Propheten genennet; weil ihm das verborgenſte klar
und entdeckt geſchienen.
640 Um nichts verſchertzen ſoll. So machens die Schmeichler. Warum
ſoll ich mir meinen Freund zum Feinde machen? fragen ſie. Es mag immer gut
ſeyn. Jch will ihnen ihr Vergnuͤgen nicht ſtoͤren. Aber das thut nach Horatii
Regel kein vir bonus & prudens.
642 Mehr als Kleinigkeiten. Dieß iſt ſehr vernuͤnftig geſprochen. Kleine
Dinge ziehen vielmahl was groſſes nach ſich. Die Schmeicheley gegen einen Poe-
ten macht ihn ſtoltz. Der Stoltz lehrt ihn hernach alles andre verachten, ja er ſelbſt
wird bey Kennern auslachens wuͤrdig. Das aͤrgſte iſt, daß ſolche Leute hernach
gar aufhoͤren Lehre anzunehmen. Sie halten ſich ſchon vor vollkommen: darum
wollen ſie ſich nicht mehr beſſern wenn ſie gleich koͤnnten. Jſt das nicht zu bedauren?
646 Die Monden-Kranckheit oder Mondſucht. Die Alten glaubten daß
alle dieſe Kranckheiten anſteckend waͤren, darum floh man alle dieſe Leute, als ob ſie
gar
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="31">
              <l><pb facs="#f0080" n="52"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kun&#x017F;t.</hi></fw><lb/><note place="left">635</note>Am Rande, wo der Vers was unge&#x017F;chicktes zeigt.</l><lb/>
              <l>Er mei&#x017F;tert allen Schmuck der gar zu pra&#x0364;chtig &#x017F;teigt.</l><lb/>
              <l>Was unver&#x017F;ta&#x0364;ndlich i&#x017F;t, das hei&#x017F;t er kla&#x0364;rer machen,</l><lb/>
              <l>Be&#x017F;traft den Doppel&#x017F;inn und wird in allen Sachen</l><lb/>
              <l>Ein andrer Ari&#x017F;tarch. Er fragt nicht Kummer-voll,<lb/><note place="left">640</note>Warum er einen Freund um nichts ver&#x017F;chertzen &#x017F;oll?</l><lb/>
              <l>So &#x017F;chlecht dieß alles &#x017F;cheint, &#x017F;o wirckt es doch zu Zeiten</l><lb/>
              <l>Jn Wahrheit etwas mehr, als &#x017F;chlechte Kleinigkeiten.</l><lb/>
              <l>Dein &#x017F;chmeicheln macht ihn &#x017F;toltz, dein ho&#x0364;flicher Betrug</l><lb/>
              <l>Bla&#x0364;&#x017F;t einen Dichter auf: &#x017F;o wird er nimmer klug.<lb/><note place="left">645</note>Und wie man Leute fleucht, die &#x017F;ich die Kra&#x0364;tze &#x017F;chaben,</l><lb/>
              <l>Die Gelb&#x017F;ucht, Ra&#x017F;erey, und Monden-Kranckheit haben;</l><lb/>
              <l>So wird ein kluger Men&#x017F;ch, vor tollen Dichtern fliehn,</l><lb/>
              <l>Die Knaben werden ihn, zum Hohngela&#x0364;chter ziehn:</l><lb/>
              <l>Nur von der dummen Schaar, der Witz und Vor&#x017F;icht fehlet,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Wird</fw><lb/><note xml:id="f50" prev="#f49" place="foot" n="633">andre Criticos. Sie haben dreyerley Pflichten zu beobachten. Sie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en ver-<lb/>
be&#x017F;&#x017F;ern, ausmu&#x017F;tern und hinzu&#x017F;etzen. Hieher la&#x0364;ßt &#x017F;ich alles u&#x0364;brige ziehen. Die<lb/>
Mattigkeit, Ha&#x0364;rte, Unge&#x017F;chicklichkeit, Schwu&#x0364;l&#x017F;tigkeit, Dunckelheit, Zweydeu-<lb/>
tigkeit u. d. g. das &#x017F;ind die gewo&#x0364;hnlichen Fehler der Gedichte. Darauf hat ein gru&#x0364;nd-<lb/>
licher Cen&#x017F;or am mei&#x017F;ten zu &#x017F;ehen. Und die&#x017F;es pflegt in der trefflichen Deut&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chafft allhier fleißig zu ge&#x017F;chehen.</note><lb/><note place="foot" n="639"><hi rendition="#fr">Ari&#x017F;tarch.</hi> Das war ein gro&#x017F;&#x017F;er Criticus, der zu den Zeiten Ptoloma&#x0364;i<lb/>
Philadelphi gelebt. Er hat vier und zwanzig Bu&#x0364;cher Erkla&#x0364;rungen u&#x0364;ber Homerum,<lb/>
Ari&#x017F;tophanem und andre griechi&#x017F;che Poeten ge&#x017F;chrieben. Es i&#x017F;t Schade, daß die&#x017F;el-<lb/>
ben verlohren worden. Er hat eine &#x017F;o &#x017F;char&#x017F;e Beurtheilungs-Krafft im Criti&#x017F;iren<lb/>
gewie&#x017F;en, daß man ihn einen Propheten genennet; weil ihm das verborgen&#x017F;te klar<lb/>
und entdeckt ge&#x017F;chienen.</note><lb/><note place="foot" n="640"><hi rendition="#fr">Um nichts ver&#x017F;chertzen &#x017F;oll.</hi> So machens die Schmeichler. Warum<lb/>
&#x017F;oll ich mir meinen Freund zum Feinde machen? fragen &#x017F;ie. Es mag immer gut<lb/>
&#x017F;eyn. Jch will ihnen ihr Vergnu&#x0364;gen nicht &#x017F;to&#x0364;ren. Aber das thut nach Horatii<lb/>
Regel kein <hi rendition="#aq">vir bonus &amp; prudens.</hi></note><lb/><note place="foot" n="642"><hi rendition="#fr">Mehr als Kleinigkeiten.</hi> Dieß i&#x017F;t &#x017F;ehr vernu&#x0364;nftig ge&#x017F;prochen. Kleine<lb/>
Dinge ziehen vielmahl was gro&#x017F;&#x017F;es nach &#x017F;ich. Die Schmeicheley gegen einen Poe-<lb/>
ten macht ihn &#x017F;toltz. Der Stoltz lehrt ihn hernach alles andre verachten, ja er &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
wird bey Kennern auslachens wu&#x0364;rdig. Das a&#x0364;rg&#x017F;te i&#x017F;t, daß &#x017F;olche Leute hernach<lb/>
gar aufho&#x0364;ren Lehre anzunehmen. Sie halten &#x017F;ich &#x017F;chon vor vollkommen: darum<lb/>
wollen &#x017F;ie &#x017F;ich nicht mehr be&#x017F;&#x017F;ern wenn &#x017F;ie gleich ko&#x0364;nnten. J&#x017F;t das nicht zu bedauren?</note><lb/><note xml:id="f51" next="#f52" place="foot" n="646"><hi rendition="#fr">Die Monden-Kranckheit</hi> oder Mond&#x017F;ucht. Die Alten glaubten daß<lb/>
alle die&#x017F;e Kranckheiten an&#x017F;teckend wa&#x0364;ren, darum floh man alle die&#x017F;e Leute, als ob &#x017F;ie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gar</fw></note><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0080] Horatius von der Dicht-Kunſt. Am Rande, wo der Vers was ungeſchicktes zeigt. Er meiſtert allen Schmuck der gar zu praͤchtig ſteigt. Was unverſtaͤndlich iſt, das heiſt er klaͤrer machen, Beſtraft den Doppelſinn und wird in allen Sachen Ein andrer Ariſtarch. Er fragt nicht Kummer-voll, Warum er einen Freund um nichts verſchertzen ſoll? So ſchlecht dieß alles ſcheint, ſo wirckt es doch zu Zeiten Jn Wahrheit etwas mehr, als ſchlechte Kleinigkeiten. Dein ſchmeicheln macht ihn ſtoltz, dein hoͤflicher Betrug Blaͤſt einen Dichter auf: ſo wird er nimmer klug. Und wie man Leute fleucht, die ſich die Kraͤtze ſchaben, Die Gelbſucht, Raſerey, und Monden-Kranckheit haben; So wird ein kluger Menſch, vor tollen Dichtern fliehn, Die Knaben werden ihn, zum Hohngelaͤchter ziehn: Nur von der dummen Schaar, der Witz und Vorſicht fehlet, Wird 633 639 640 642 646 633 andre Criticos. Sie haben dreyerley Pflichten zu beobachten. Sie muͤſſen ver- beſſern, ausmuſtern und hinzuſetzen. Hieher laͤßt ſich alles uͤbrige ziehen. Die Mattigkeit, Haͤrte, Ungeſchicklichkeit, Schwuͤlſtigkeit, Dunckelheit, Zweydeu- tigkeit u. d. g. das ſind die gewoͤhnlichen Fehler der Gedichte. Darauf hat ein gruͤnd- licher Cenſor am meiſten zu ſehen. Und dieſes pflegt in der trefflichen Deutſchen Geſellſchafft allhier fleißig zu geſchehen. 639 Ariſtarch. Das war ein groſſer Criticus, der zu den Zeiten Ptolomaͤi Philadelphi gelebt. Er hat vier und zwanzig Buͤcher Erklaͤrungen uͤber Homerum, Ariſtophanem und andre griechiſche Poeten geſchrieben. Es iſt Schade, daß dieſel- ben verlohren worden. Er hat eine ſo ſcharſe Beurtheilungs-Krafft im Critiſiren gewieſen, daß man ihn einen Propheten genennet; weil ihm das verborgenſte klar und entdeckt geſchienen. 640 Um nichts verſchertzen ſoll. So machens die Schmeichler. Warum ſoll ich mir meinen Freund zum Feinde machen? fragen ſie. Es mag immer gut ſeyn. Jch will ihnen ihr Vergnuͤgen nicht ſtoͤren. Aber das thut nach Horatii Regel kein vir bonus & prudens. 642 Mehr als Kleinigkeiten. Dieß iſt ſehr vernuͤnftig geſprochen. Kleine Dinge ziehen vielmahl was groſſes nach ſich. Die Schmeicheley gegen einen Poe- ten macht ihn ſtoltz. Der Stoltz lehrt ihn hernach alles andre verachten, ja er ſelbſt wird bey Kennern auslachens wuͤrdig. Das aͤrgſte iſt, daß ſolche Leute hernach gar aufhoͤren Lehre anzunehmen. Sie halten ſich ſchon vor vollkommen: darum wollen ſie ſich nicht mehr beſſern wenn ſie gleich koͤnnten. Jſt das nicht zu bedauren? 646 Die Monden-Kranckheit oder Mondſucht. Die Alten glaubten daß alle dieſe Kranckheiten anſteckend waͤren, darum floh man alle dieſe Leute, als ob ſie gar

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/80
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/80>, abgerufen am 28.03.2024.