Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Tyr- 552 Noch neun Jahr. Catullus gedenckt, daß sein guter Freund Cinna, sein Gedichte, Smyrna genannt, so lange fertig gehabt ehe ers herausgegeben. Jsocrates hat über einen Panegyricum 10 Jahre zugebracht. Doch will Horatz nicht, daß aus der Behutsamkeit in der Ausbesserung, eine unendliche Arbeit werden soll. Er will nur der Ubereilung steuren, und setzt eine bestimmte Zahl vor eine unbe- stimmte. 554 Von schnöder etc. Horatz fängt an das Lob der ältesten Poeten zu beschrei- ben, damit sich der junge Piso nicht durch die bisher erklärten Schwierigkeiten der Poesie solle abschrecken lassen. 555 Orpheus. Ein alter Poet, der zu Mosis Zeiten anderthalb tausend Jahre vor Christi Geburt gelebt. Die Oden so man unter seinem Nahmen noch zeiget, sind nicht von ihm. Das war ein andrer Orpheus, der zur Zeit der Argonauten gelebt: denn damahls war Griechenland nicht mehr so rauh und wilde, als es hier Horatz beschreibt. Denn die Löwen bedeuten hier unbändige wilde Leute. 561 Amphion. Cadmus hatte Theben erbauet; Etwa dreyßig Jahre nach ihm kam Amphion, der durch seine Music, Poesie und Beredsamkeit es so weit brachte, daß die Einwohner eine Mauer um die Stadt baueten, ja auch ein festes Schloß anlegten. Daher kommt die Fabel, daß sich auf seinen Gesang die Steine beweget, und von sich selbst eine Mauer aufgeführet hätten. 565 Die Weisheit etc. Die ersten Poeten waren eigentlich Weltweise und kluge Staatsleute, insoweit es ihre Zeiten zuliessen. Sie bedienten sich nur der Poesie zu ihrem Zwecke zu gelangen, und die wiederspenstigen Gemüther dadurch zu bändigen. Jhre Absicht war, dem wilden Volcke die natürlichen Gesetze der Vernunft, oder das Recht der Natur zu lehren, und sie zum gesellschafftlichen Leben anzuführen. Kurtz, die Poeten waren die ersten Philosophen, Rechts- und Gottes-Gelehrten. 570 Ruhm und Preis. Es ist Ruhms genng, wenn Strabo schreibt, einen
Veräch-
Tyr- 552 Noch neun Jahr. Catullus gedenckt, daß ſein guter Freund Cinna, ſein Gedichte, Smyrna genannt, ſo lange fertig gehabt ehe ers herausgegeben. Jſocrates hat uͤber einen Panegyricum 10 Jahre zugebracht. Doch will Horatz nicht, daß aus der Behutſamkeit in der Ausbeſſerung, eine unendliche Arbeit werden ſoll. Er will nur der Ubereilung ſteuren, und ſetzt eine beſtimmte Zahl vor eine unbe- ſtimmte. 554 Von ſchnöder ꝛc. Horatz faͤngt an das Lob der aͤlteſten Poeten zu beſchrei- ben, damit ſich der junge Piſo nicht durch die bisher erklaͤrten Schwierigkeiten der Poeſie ſolle abſchrecken laſſen. 555 Orpheus. Ein alter Poet, der zu Moſis Zeiten anderthalb tauſend Jahre vor Chriſti Geburt gelebt. Die Oden ſo man unter ſeinem Nahmen noch zeiget, ſind nicht von ihm. Das war ein andrer Orpheus, der zur Zeit der Argonauten gelebt: denn damahls war Griechenland nicht mehr ſo rauh und wilde, als es hier Horatz beſchreibt. Denn die Loͤwen bedeuten hier unbaͤndige wilde Leute. 561 Amphion. Cadmus hatte Theben erbauet; Etwa dreyßig Jahre nach ihm kam Amphion, der durch ſeine Muſic, Poeſie und Beredſamkeit es ſo weit brachte, daß die Einwohner eine Mauer um die Stadt baueten, ja auch ein feſtes Schloß anlegten. Daher kommt die Fabel, daß ſich auf ſeinen Geſang die Steine beweget, und von ſich ſelbſt eine Mauer aufgefuͤhret haͤtten. 565 Die Weisheit ꝛc. Die erſten Poeten waren eigentlich Weltweiſe und kluge Staatsleute, inſoweit es ihre Zeiten zulieſſen. Sie bedienten ſich nur der Poeſie zu ihrem Zwecke zu gelangen, und die wiederſpenſtigen Gemuͤther dadurch zu baͤndigen. Jhre Abſicht war, dem wilden Volcke die natuͤrlichen Geſetze der Vernunft, oder das Recht der Natur zu lehren, und ſie zum geſellſchafftlichen Leben anzufuͤhren. Kurtz, die Poeten waren die erſten Philoſophen, Rechts- und Gottes-Gelehrten. 570 Ruhm und Preis. Es iſt Ruhms genng, wenn Strabo ſchreibt, einen
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Horatius von der Dicht-Kunſt.
Die wilden Thieren gleich in wuͤſten Waͤldern tobten,
Und nachmahls ſeine Kunſt als uͤber menſchlich lobten.
Drum ſagt man ſonſt, daß er der Tyger Wuth gezaͤhmt,
Der Loͤwen Raſerey zur Lindigkeit bequemt.
Amphion ebenfalls ſoll durch die Dichter-Gaben
Und ſeiner Cither Klang ein Schloß erbauet haben,
Weil auf der Seyten Thon ſich Stein und Holtz bewegt,
Und Thebens Mauer ſich freywillig angelegt.
Das war vor grauer Zeit die Weisheit jener Alten,
Zu zeigen, was vor gut und ſtraf bar ſey zu halten,
Was recht und ſchaͤndlich war, der Unzucht feind zu ſeyn,
Den Beyſchlaf abzuthun, den Ehſtand einzuweyhn,
Die Staͤdte zu erbaun, Geſetze vorzuſchreiben:
So muſte Ruhm und Preis den Dichtern eigen bleiben.
Tyr-
552
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552 Noch neun Jahr. Catullus gedenckt, daß ſein guter Freund Cinna,
ſein Gedichte, Smyrna genannt, ſo lange fertig gehabt ehe ers herausgegeben.
Jſocrates hat uͤber einen Panegyricum 10 Jahre zugebracht. Doch will Horatz nicht,
daß aus der Behutſamkeit in der Ausbeſſerung, eine unendliche Arbeit werden ſoll.
Er will nur der Ubereilung ſteuren, und ſetzt eine beſtimmte Zahl vor eine unbe-
ſtimmte.
554 Von ſchnöder ꝛc. Horatz faͤngt an das Lob der aͤlteſten Poeten zu beſchrei-
ben, damit ſich der junge Piſo nicht durch die bisher erklaͤrten Schwierigkeiten der
Poeſie ſolle abſchrecken laſſen.
555 Orpheus. Ein alter Poet, der zu Moſis Zeiten anderthalb tauſend Jahre
vor Chriſti Geburt gelebt. Die Oden ſo man unter ſeinem Nahmen noch zeiget,
ſind nicht von ihm. Das war ein andrer Orpheus, der zur Zeit der Argonauten
gelebt: denn damahls war Griechenland nicht mehr ſo rauh und wilde, als es hier
Horatz beſchreibt. Denn die Loͤwen bedeuten hier unbaͤndige wilde Leute.
561 Amphion. Cadmus hatte Theben erbauet; Etwa dreyßig Jahre nach
ihm kam Amphion, der durch ſeine Muſic, Poeſie und Beredſamkeit es ſo weit
brachte, daß die Einwohner eine Mauer um die Stadt baueten, ja auch ein feſtes
Schloß anlegten. Daher kommt die Fabel, daß ſich auf ſeinen Geſang die Steine
beweget, und von ſich ſelbſt eine Mauer aufgefuͤhret haͤtten.
565 Die Weisheit ꝛc. Die erſten Poeten waren eigentlich Weltweiſe und
kluge Staatsleute, inſoweit es ihre Zeiten zulieſſen. Sie bedienten ſich nur der
Poeſie zu ihrem Zwecke zu gelangen, und die wiederſpenſtigen Gemuͤther dadurch
zu baͤndigen. Jhre Abſicht war, dem wilden Volcke die natuͤrlichen Geſetze der
Vernunft, oder das Recht der Natur zu lehren, und ſie zum geſellſchafftlichen
Leben anzufuͤhren. Kurtz, die Poeten waren die erſten Philoſophen, Rechts- und
Gottes-Gelehrten.
570 Ruhm und Preis. Es iſt Ruhms genng, wenn Strabo ſchreibt, einen
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