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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Opern oder Singspielen.
etique de la Guerre entre les Anciens et les Modernes ist. Jm
eilften Buche beschreibt er das Entsetzen, welches Orpheus, Am-
phion und Arion über den fürchterlichen Nahmen des Lulli, in der
prächtigen Beschreibung der Opern empfunden, die Perrault in
seinem Gedichte Le Siecle de Louis le grand, eingerücket. Or-
pheus will fast an seiner Kunst verzagen; aber ein italienischer
Musicus, der kürtzlich aus der Ober-Welt gekommen, tröstet ihn
wieder. Meynest du, sagt er, daß die meisten Menschen, die dem
Lulli so begierig nachlaufen, sich besser auf die Music verstehen, als
die Bestien, die dich vormahls begleiteten? Und müssen sie nicht
recht dumm seyn, da sie unaufhörlich ihr Geld in die Oper tragen,
um funfzigmahl eben dasselbe zu hören? Jch verstehe das Hand-
werck, göttlicher Orpheus, drum sey getrost, ich werde dir zeigen,
daß diese so berüchtigte Oper dasjenige gar nicht ist, wofür man sie
ausgiebt. Hierauf fährt er fort, und gesteht zwar den französi-
schen Symphonien eine grosse Schönheit zu: Allein die poetischen
Stücke, die man absinget, macht er desto ärger herunter. Er sagt,
sie wären sehr übel ausgedacht, und schlecht eingerichtet, und würden
von lauter schwachen Stimmen abgesungen, davon man aus zwan-
zigen nicht eine verstehen könnte, weil sie durch die Jnstrumente
gantz ersticket würden. Das Geräusche davon sey vor den kleinen
Ort, wo man sie spielet, so groß, daß man kaum ohne Kopfschmer-
tzen und vielmahliges Gähnen nach Hause käme, wenn man es drey
Stunden lang angehöret. Jndessen liefe alle Welt hinein, um der
Mode gemäß etliche Stunden übel zuzubringen. Es wäre nichts
eckelhaffters als die kläglichen Recitative anzuhören, die den grösten
Theil dieser Schauspiele einnehmen; und der Musicus sollte von
rechtswegen die Zuschauer bezahlen, daß sie sich die Gedult nehmen
wollen, sich so lange plagen zu lassen. Die Sänger und Sängerin-
nen erzehlten auf eine gantz unnatürliche Art, nehmlich singend, sol-
che Abentheuer, die aller Vernunfft und Wahrscheinlichkeit zuwieder
wären, keine Leidenschafften erregen könnten, und so schlecht gesetzt
wären, daß der elendeste Stümper aus dem Stegreife eben solche
Melodien erdencken könnte, als Lulli selbst in Noten gesetzt. Endlich
mercket er an, daß sich Lulli zum Meister der gantzen Schaubühne
aufgeworfen, und sich so gar den Poeten unterwürfig gemacht ha-
be: anstatt daß sich die Musie nach den Gedancken des Dichters
richten sollte.

Darauf
Q q 2

Von Opern oder Singſpielen.
etique de la Guerre entre les Anciens et les Modernes iſt. Jm
eilften Buche beſchreibt er das Entſetzen, welches Orpheus, Am-
phion und Arion uͤber den fuͤrchterlichen Nahmen des Lulli, in der
praͤchtigen Beſchreibung der Opern empfunden, die Perrault in
ſeinem Gedichte Le Siecle de Louis le grand, eingeruͤcket. Or-
pheus will faſt an ſeiner Kunſt verzagen; aber ein italieniſcher
Muſicus, der kuͤrtzlich aus der Ober-Welt gekommen, troͤſtet ihn
wieder. Meyneſt du, ſagt er, daß die meiſten Menſchen, die dem
Lulli ſo begierig nachlaufen, ſich beſſer auf die Muſic verſtehen, als
die Beſtien, die dich vormahls begleiteten? Und muͤſſen ſie nicht
recht dumm ſeyn, da ſie unaufhoͤrlich ihr Geld in die Oper tragen,
um funfzigmahl eben daſſelbe zu hoͤren? Jch verſtehe das Hand-
werck, goͤttlicher Orpheus, drum ſey getroſt, ich werde dir zeigen,
daß dieſe ſo beruͤchtigte Oper dasjenige gar nicht iſt, wofuͤr man ſie
ausgiebt. Hierauf faͤhrt er fort, und geſteht zwar den franzoͤſi-
ſchen Symphonien eine groſſe Schoͤnheit zu: Allein die poetiſchen
Stuͤcke, die man abſinget, macht er deſto aͤrger herunter. Er ſagt,
ſie waͤren ſehr uͤbel ausgedacht, und ſchlecht eingerichtet, und wuͤrden
von lauter ſchwachen Stimmen abgeſungen, davon man aus zwan-
zigen nicht eine verſtehen koͤnnte, weil ſie durch die Jnſtrumente
gantz erſticket wuͤrden. Das Geraͤuſche davon ſey vor den kleinen
Ort, wo man ſie ſpielet, ſo groß, daß man kaum ohne Kopfſchmer-
tzen und vielmahliges Gaͤhnen nach Hauſe kaͤme, wenn man es drey
Stunden lang angehoͤret. Jndeſſen liefe alle Welt hinein, um der
Mode gemaͤß etliche Stunden uͤbel zuzubringen. Es waͤre nichts
eckelhaffters als die klaͤglichen Recitative anzuhoͤren, die den groͤſten
Theil dieſer Schauſpiele einnehmen; und der Muſicus ſollte von
rechtswegen die Zuſchauer bezahlen, daß ſie ſich die Gedult nehmen
wollen, ſich ſo lange plagen zu laſſen. Die Saͤnger und Saͤngerin-
nen erzehlten auf eine gantz unnatuͤrliche Art, nehmlich ſingend, ſol-
che Abentheuer, die aller Vernunfft und Wahrſcheinlichkeit zuwieder
waͤren, keine Leidenſchafften erregen koͤnnten, und ſo ſchlecht geſetzt
waͤren, daß der elendeſte Stuͤmper aus dem Stegreife eben ſolche
Melodien erdencken koͤnnte, als Lulli ſelbſt in Noten geſetzt. Endlich
mercket er an, daß ſich Lulli zum Meiſter der gantzen Schaubuͤhne
aufgeworfen, und ſich ſo gar den Poeten unterwuͤrfig gemacht ha-
be: anſtatt daß ſich die Muſie nach den Gedancken des Dichters
richten ſollte.

Darauf
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[611/0639] Von Opern oder Singſpielen. etique de la Guerre entre les Anciens et les Modernes iſt. Jm eilften Buche beſchreibt er das Entſetzen, welches Orpheus, Am- phion und Arion uͤber den fuͤrchterlichen Nahmen des Lulli, in der praͤchtigen Beſchreibung der Opern empfunden, die Perrault in ſeinem Gedichte Le Siecle de Louis le grand, eingeruͤcket. Or- pheus will faſt an ſeiner Kunſt verzagen; aber ein italieniſcher Muſicus, der kuͤrtzlich aus der Ober-Welt gekommen, troͤſtet ihn wieder. Meyneſt du, ſagt er, daß die meiſten Menſchen, die dem Lulli ſo begierig nachlaufen, ſich beſſer auf die Muſic verſtehen, als die Beſtien, die dich vormahls begleiteten? Und muͤſſen ſie nicht recht dumm ſeyn, da ſie unaufhoͤrlich ihr Geld in die Oper tragen, um funfzigmahl eben daſſelbe zu hoͤren? Jch verſtehe das Hand- werck, goͤttlicher Orpheus, drum ſey getroſt, ich werde dir zeigen, daß dieſe ſo beruͤchtigte Oper dasjenige gar nicht iſt, wofuͤr man ſie ausgiebt. Hierauf faͤhrt er fort, und geſteht zwar den franzoͤſi- ſchen Symphonien eine groſſe Schoͤnheit zu: Allein die poetiſchen Stuͤcke, die man abſinget, macht er deſto aͤrger herunter. Er ſagt, ſie waͤren ſehr uͤbel ausgedacht, und ſchlecht eingerichtet, und wuͤrden von lauter ſchwachen Stimmen abgeſungen, davon man aus zwan- zigen nicht eine verſtehen koͤnnte, weil ſie durch die Jnſtrumente gantz erſticket wuͤrden. Das Geraͤuſche davon ſey vor den kleinen Ort, wo man ſie ſpielet, ſo groß, daß man kaum ohne Kopfſchmer- tzen und vielmahliges Gaͤhnen nach Hauſe kaͤme, wenn man es drey Stunden lang angehoͤret. Jndeſſen liefe alle Welt hinein, um der Mode gemaͤß etliche Stunden uͤbel zuzubringen. Es waͤre nichts eckelhaffters als die klaͤglichen Recitative anzuhoͤren, die den groͤſten Theil dieſer Schauſpiele einnehmen; und der Muſicus ſollte von rechtswegen die Zuſchauer bezahlen, daß ſie ſich die Gedult nehmen wollen, ſich ſo lange plagen zu laſſen. Die Saͤnger und Saͤngerin- nen erzehlten auf eine gantz unnatuͤrliche Art, nehmlich ſingend, ſol- che Abentheuer, die aller Vernunfft und Wahrſcheinlichkeit zuwieder waͤren, keine Leidenſchafften erregen koͤnnten, und ſo ſchlecht geſetzt waͤren, daß der elendeſte Stuͤmper aus dem Stegreife eben ſolche Melodien erdencken koͤnnte, als Lulli ſelbſt in Noten geſetzt. Endlich mercket er an, daß ſich Lulli zum Meiſter der gantzen Schaubuͤhne aufgeworfen, und ſich ſo gar den Poeten unterwuͤrfig gemacht ha- be: anſtatt daß ſich die Muſie nach den Gedancken des Dichters richten ſollte. Darauf Q q 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 611. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/639>, abgerufen am 25.04.2024.