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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst.

Es hat ihn Accius und Ennius gebraucht;
Hingegen wem es itzt was ungemeines daucht,
Den Jamben gar zu viel Spondeen einzumengen,
Als wenn sie prächtiger auf unsern Büchern klängen:
355Da dächt ich, daß er sie gewiß in Eil gemacht,

Wo nicht, doch an die Kunst der Musen nie gedacht,
Die Regeln nie gelernt. Von kläglichen Gedichten,
Weiß nicht ein jedes Ohr wie sichs gebührt zu richten.
Wie mancher Stümper hat, ohn alle Kunst und Fleiß,
360Von unserm Römer-Volck der Dicht-Kunst hohen Preis,

Bisher gar offt erlangt. Soll ich deßwegen hoffen,
Es stehe mir der Weg zu jeder Freyheit offen?
Soll ich verwegen seyn, weil irgend niemand sieht,
Wie offt mein Kiel gefehlt? Und wenn das gleich geschieht,
365Dieweil man mir auch dann die Fehler leicht vergiebet?

Fürwar, so denckt kein Geist der Ruhm und Ehre liebet;
Und ich verlange mehr, als tadelfrey zu seyn.
Jhr Freunde, blättert doch bey Sonn- und Mondenschein,
Bey Tage wie bey Nacht der Griechen alte Schrifften;
370Denn diese werden euch den schönsten Vortheil stifften.

350
367
369
Zwar
niglich etliche derselben unter ihre Jamben gemischt. Jm Deutschen ist es uns
auch so ungewöhnlich nicht, daß wir manche lange Sylbe da dulden wo eigentlich
eine kurtze stehen sollte; dadurch an statt des Jambi ein Spondeus entsteht. Rech-
nen dieses einige unter die Poetischen Freyheiten; so könnte man es zuweilen gar
vor eine Schönheit halten.
350 Man spürt ihn. Nehmlich den Spondeum; aber nicht so regelmäßig
und auf den gehörigen Stellen. Ja diese alten Poeten haben wohl zuweilen gantze
Spondeische Zeilen, darinn nur der letzte Fuß jambisch ist, unter ihre Jamben
fliessen lassen: Nicht anders als es unsre alten Meistersänger gemacht, auch wohl
einige neuere noch thun, welches aber ihre Verße rauh und hart machet; gesetzt
die Gedancken wären noch so schöne.
367 Mehr als Tadel-frey. Horatz will nicht nur untadelhaffte Verße schrei-
ben: sondern er will auch Lob verdienen. Keine Schnitzer wieder die Regeln ma-
chen, ist gut, und nothwendig: aber es macht noch keinen Poeten. Es gehört mehr
dazu. Was würde Horatz von der Menge unsrer Versmacher sagen, die es zum
höchsten so weit bringen, daß man nichts sonderliches an ihren Verßen tadeln kan?
Wir werden hernach noch was von mittel mäßigen Poeten finden.
369 Der Griechen. Was bey den Römern die Griechen waren, das sind vor
uns
C
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Horatius von der Dicht-Kunſt.

Es hat ihn Accius und Ennius gebraucht;
Hingegen wem es itzt was ungemeines daucht,
Den Jamben gar zu viel Spondeen einzumengen,
Als wenn ſie praͤchtiger auf unſern Buͤchern klaͤngen:
355Da daͤcht ich, daß er ſie gewiß in Eil gemacht,

Wo nicht, doch an die Kunſt der Muſen nie gedacht,
Die Regeln nie gelernt. Von klaͤglichen Gedichten,
Weiß nicht ein jedes Ohr wie ſichs gebuͤhrt zu richten.
Wie mancher Stuͤmper hat, ohn alle Kunſt und Fleiß,
360Von unſerm Roͤmer-Volck der Dicht-Kunſt hohen Preis,

Bisher gar offt erlangt. Soll ich deßwegen hoffen,
Es ſtehe mir der Weg zu jeder Freyheit offen?
Soll ich verwegen ſeyn, weil irgend niemand ſieht,
Wie offt mein Kiel gefehlt? Und wenn das gleich geſchieht,
365Dieweil man mir auch dann die Fehler leicht vergiebet?

Fuͤrwar, ſo denckt kein Geiſt der Ruhm und Ehre liebet;
Und ich verlange mehr, als tadelfrey zu ſeyn.
Jhr Freunde, blaͤttert doch bey Sonn- und Mondenſchein,
Bey Tage wie bey Nacht der Griechen alte Schrifften;
370Denn dieſe werden euch den ſchoͤnſten Vortheil ſtifften.

350
367
369
Zwar
niglich etliche derſelben unter ihre Jamben gemiſcht. Jm Deutſchen iſt es uns
auch ſo ungewoͤhnlich nicht, daß wir manche lange Sylbe da dulden wo eigentlich
eine kurtze ſtehen ſollte; dadurch an ſtatt des Jambi ein Spondeus entſteht. Rech-
nen dieſes einige unter die Poetiſchen Freyheiten; ſo koͤnnte man es zuweilen gar
vor eine Schoͤnheit halten.
350 Man ſpürt ihn. Nehmlich den Spondeum; aber nicht ſo regelmaͤßig
und auf den gehoͤrigen Stellen. Ja dieſe alten Poeten haben wohl zuweilen gantze
Spondeiſche Zeilen, darinn nur der letzte Fuß jambiſch iſt, unter ihre Jamben
flieſſen laſſen: Nicht anders als es unſre alten Meiſterſaͤnger gemacht, auch wohl
einige neuere noch thun, welches aber ihre Verße rauh und hart machet; geſetzt
die Gedancken waͤren noch ſo ſchoͤne.
367 Mehr als Tadel-frey. Horatz will nicht nur untadelhaffte Verße ſchrei-
ben: ſondern er will auch Lob verdienen. Keine Schnitzer wieder die Regeln ma-
chen, iſt gut, und nothwendig: aber es macht noch keinen Poeten. Es gehoͤrt mehr
dazu. Was wuͤrde Horatz von der Menge unſrer Versmacher ſagen, die es zum
hoͤchſten ſo weit bringen, daß man nichts ſonderliches an ihren Verßen tadeln kan?
Wir werden hernach noch was von mittel maͤßigen Poeten finden.
369 Der Griechen. Was bey den Roͤmern die Griechen waren, das ſind vor
uns
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[33/0061] Horatius von der Dicht-Kunſt. Es hat ihn Accius und Ennius gebraucht; Hingegen wem es itzt was ungemeines daucht, Den Jamben gar zu viel Spondeen einzumengen, Als wenn ſie praͤchtiger auf unſern Buͤchern klaͤngen: Da daͤcht ich, daß er ſie gewiß in Eil gemacht, Wo nicht, doch an die Kunſt der Muſen nie gedacht, Die Regeln nie gelernt. Von klaͤglichen Gedichten, Weiß nicht ein jedes Ohr wie ſichs gebuͤhrt zu richten. Wie mancher Stuͤmper hat, ohn alle Kunſt und Fleiß, Von unſerm Roͤmer-Volck der Dicht-Kunſt hohen Preis, Bisher gar offt erlangt. Soll ich deßwegen hoffen, Es ſtehe mir der Weg zu jeder Freyheit offen? Soll ich verwegen ſeyn, weil irgend niemand ſieht, Wie offt mein Kiel gefehlt? Und wenn das gleich geſchieht, Dieweil man mir auch dann die Fehler leicht vergiebet? Fuͤrwar, ſo denckt kein Geiſt der Ruhm und Ehre liebet; Und ich verlange mehr, als tadelfrey zu ſeyn. Jhr Freunde, blaͤttert doch bey Sonn- und Mondenſchein, Bey Tage wie bey Nacht der Griechen alte Schrifften; Denn dieſe werden euch den ſchoͤnſten Vortheil ſtifften. Zwar 346 350 367 369 346 niglich etliche derſelben unter ihre Jamben gemiſcht. Jm Deutſchen iſt es uns auch ſo ungewoͤhnlich nicht, daß wir manche lange Sylbe da dulden wo eigentlich eine kurtze ſtehen ſollte; dadurch an ſtatt des Jambi ein Spondeus entſteht. Rech- nen dieſes einige unter die Poetiſchen Freyheiten; ſo koͤnnte man es zuweilen gar vor eine Schoͤnheit halten. 350 Man ſpürt ihn. Nehmlich den Spondeum; aber nicht ſo regelmaͤßig und auf den gehoͤrigen Stellen. Ja dieſe alten Poeten haben wohl zuweilen gantze Spondeiſche Zeilen, darinn nur der letzte Fuß jambiſch iſt, unter ihre Jamben flieſſen laſſen: Nicht anders als es unſre alten Meiſterſaͤnger gemacht, auch wohl einige neuere noch thun, welches aber ihre Verße rauh und hart machet; geſetzt die Gedancken waͤren noch ſo ſchoͤne. 367 Mehr als Tadel-frey. Horatz will nicht nur untadelhaffte Verße ſchrei- ben: ſondern er will auch Lob verdienen. Keine Schnitzer wieder die Regeln ma- chen, iſt gut, und nothwendig: aber es macht noch keinen Poeten. Es gehoͤrt mehr dazu. Was wuͤrde Horatz von der Menge unſrer Versmacher ſagen, die es zum hoͤchſten ſo weit bringen, daß man nichts ſonderliches an ihren Verßen tadeln kan? Wir werden hernach noch was von mittel maͤßigen Poeten finden. 369 Der Griechen. Was bey den Roͤmern die Griechen waren, das ſind vor uns C C

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/61>, abgerufen am 26.04.2024.