nebst seiner geplagten Schwester Electra auf einmahl glück- lich. Eben so ist die Tragödie von der Banise beschaffen, wo Chaumigrem stirbt, der verkleidete Balacin aber mit sei- ner Prinzeßin auf einmahl glücklich wird. Die Schönheit in dergleichen Fabeln besteht darinn, daß dieser Glücks- Wechsel gantz zuletzt, und zwar unvermuthet geschieht, auch die Entdeckung der verkleideten oder unbekannten Personen, wenn dergleichen verhanden sind, unmittelbar vorhergeht.
Jch komme nunmehro auf die Charactere der Tragödie, dadurch die gantze Fabel ihr rechtes Leben bekommt. Man darf hier nur wiederholen, was im vorigen Capitel davon ge- saget worden: denn alles das muß hier auch gelten. Es muß also der Poet seinen Hauptpersonen eine solche Gemüthsbe- schaffenheit geben, daraus man ihre künftige Handlungen wahrscheinlich vermuthen, und wenn sie geschehen, leicht be- greifen kan. Sogleich in dem ersten Auftritte, den sie hat, muß sie ihr Naturell, ihre Neigungen, ihre Tugenden und Laster verrathen; dadurch sie sich von andern Menschen un- terscheidet. So zeiget, zum Exempel, Racine den Porus gleich von Anfang als einen großmüthigen Held, der allein das Hertz hat dem Alexander die Spitze zu bieten: worüber ihn zwar St. Evremont getadelt hat; aber ohne Grund: weil selbst Curtius demselben diesen Character beygelegt. So hat auch Cinna gleich im ersten Auftritte den Character eines verwegenen Rebellen, und Freyheit-liebenden Römers, so- wohl als Aemilia die Gemüthsart eines rachgierigen und un- versöhnlichen Frauenzimmers. Roderich stellt durchgehends einen ehrliebenden und unverzagten Held vor, und Chimene eine rechtschaffene Tochter ihres Vaters, zugleich aber eine treue Liebhaberin ihres Roderichs. Und darinn sind alle die- se Poeten der Regel Horatii gefolgt:
Honoratum si forte reponis Achillem, Impiger, iracundus, inexorabilis, acer, Jura neget sibi nata: nihil non arroget armis. Sit Medea ferox inuictaque, flebilis Ino, Perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes.
Dieses will so viel sagen, daß ein Poet die Personen, die aus
der
O o
Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
nebſt ſeiner geplagten Schweſter Electra auf einmahl gluͤck- lich. Eben ſo iſt die Tragoͤdie von der Baniſe beſchaffen, wo Chaumigrem ſtirbt, der verkleidete Balacin aber mit ſei- ner Prinzeßin auf einmahl gluͤcklich wird. Die Schoͤnheit in dergleichen Fabeln beſteht darinn, daß dieſer Gluͤcks- Wechſel gantz zuletzt, und zwar unvermuthet geſchieht, auch die Entdeckung der verkleideten oder unbekannten Perſonen, wenn dergleichen verhanden ſind, unmittelbar vorhergeht.
Jch komme nunmehro auf die Charactere der Tragoͤdie, dadurch die gantze Fabel ihr rechtes Leben bekommt. Man darf hier nur wiederholen, was im vorigen Capitel davon ge- ſaget worden: denn alles das muß hier auch gelten. Es muß alſo der Poet ſeinen Hauptperſonen eine ſolche Gemuͤthsbe- ſchaffenheit geben, daraus man ihre kuͤnftige Handlungen wahrſcheinlich vermuthen, und wenn ſie geſchehen, leicht be- greifen kan. Sogleich in dem erſten Auftritte, den ſie hat, muß ſie ihr Naturell, ihre Neigungen, ihre Tugenden und Laſter verrathen; dadurch ſie ſich von andern Menſchen un- terſcheidet. So zeiget, zum Exempel, Racine den Porus gleich von Anfang als einen großmuͤthigen Held, der allein das Hertz hat dem Alexander die Spitze zu bieten: woruͤber ihn zwar St. Evremont getadelt hat; aber ohne Grund: weil ſelbſt Curtius demſelben dieſen Character beygelegt. So hat auch Cinna gleich im erſten Auftritte den Character eines verwegenen Rebellen, und Freyheit-liebenden Roͤmers, ſo- wohl als Aemilia die Gemuͤthsart eines rachgierigen und un- verſoͤhnlichen Frauenzimmers. Roderich ſtellt durchgehends einen ehrliebenden und unverzagten Held vor, und Chimene eine rechtſchaffene Tochter ihres Vaters, zugleich aber eine treue Liebhaberin ihres Roderichs. Und darinn ſind alle die- ſe Poeten der Regel Horatii gefolgt:
Honoratum ſi forte reponis Achillem, Impiger, iracundus, inexorabilis, acer, Jura neget ſibi nata: nihil non arroget armis. Sit Medea ferox inuictaque, flebilis Ino, Perfidus Ixion, Io vaga, triſtis Oreſtes.
Dieſes will ſo viel ſagen, daß ein Poet die Perſonen, die aus
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Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
nebſt ſeiner geplagten Schweſter Electra auf einmahl gluͤck-
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wo Chaumigrem ſtirbt, der verkleidete Balacin aber mit ſei-
ner Prinzeßin auf einmahl gluͤcklich wird. Die Schoͤnheit
in dergleichen Fabeln beſteht darinn, daß dieſer Gluͤcks-
Wechſel gantz zuletzt, und zwar unvermuthet geſchieht, auch
die Entdeckung der verkleideten oder unbekannten Perſonen,
wenn dergleichen verhanden ſind, unmittelbar vorhergeht.
Jch komme nunmehro auf die Charactere der Tragoͤdie,
dadurch die gantze Fabel ihr rechtes Leben bekommt. Man
darf hier nur wiederholen, was im vorigen Capitel davon ge-
ſaget worden: denn alles das muß hier auch gelten. Es muß
alſo der Poet ſeinen Hauptperſonen eine ſolche Gemuͤthsbe-
ſchaffenheit geben, daraus man ihre kuͤnftige Handlungen
wahrſcheinlich vermuthen, und wenn ſie geſchehen, leicht be-
greifen kan. Sogleich in dem erſten Auftritte, den ſie hat,
muß ſie ihr Naturell, ihre Neigungen, ihre Tugenden und
Laſter verrathen; dadurch ſie ſich von andern Menſchen un-
terſcheidet. So zeiget, zum Exempel, Racine den Porus
gleich von Anfang als einen großmuͤthigen Held, der allein das
Hertz hat dem Alexander die Spitze zu bieten: woruͤber ihn
zwar St. Evremont getadelt hat; aber ohne Grund: weil
ſelbſt Curtius demſelben dieſen Character beygelegt. So
hat auch Cinna gleich im erſten Auftritte den Character eines
verwegenen Rebellen, und Freyheit-liebenden Roͤmers, ſo-
wohl als Aemilia die Gemuͤthsart eines rachgierigen und un-
verſoͤhnlichen Frauenzimmers. Roderich ſtellt durchgehends
einen ehrliebenden und unverzagten Held vor, und Chimene
eine rechtſchaffene Tochter ihres Vaters, zugleich aber eine
treue Liebhaberin ihres Roderichs. Und darinn ſind alle die-
ſe Poeten der Regel Horatii gefolgt:
Honoratum ſi forte reponis Achillem,
Impiger, iracundus, inexorabilis, acer,
Jura neget ſibi nata: nihil non arroget armis.
Sit Medea ferox inuictaque, flebilis Ino,
Perfidus Ixion, Io vaga, triſtis Oreſtes.
Dieſes will ſo viel ſagen, daß ein Poet die Perſonen, die aus
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/605>, abgerufen am 23.11.2024.
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