Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Von Tragödien oder Trauerspielen.
Chor. Dieser bestund nach Beschaffenheit der Umstände
aus einer guten Anzahl von Weibern oder Männern, so die
Bürger einer Stadt vorstelleten; bald aus einer Schaar
von Priestern und Aeltesten des Volcks, bald aus einer Men-
ge von Jungfrauen, bald einem Schwarme höllischer Furien,
u. s. w. Diese Leute nun fanden sich bald in der ersten Hand-
lung auf der Schaubühne ein, und behielten ihren Platz bis
ans Ende des gantzen Spieles. Sie vertraten daselbst die
Stelle der Zuschauer, die bey der Handlung, so man spielete,
zugegen gewesen, als sie wircklich geschehen. Denn das muß
man wissen, daß die wichtigsten Handlungen der alten Grie-
chischen und morgenländischen Fürsten nicht zwischen vier
Wänden, sondern öffentlich vor ihren Pallästen, oder auf dem
Marckte ihrer Städte vorgiengen. Da waren nun allezeit
eine Menge von Zuschauern, die an dem Thun und Lassen ih-
rer Könige Theil nahmen; auch wohl nach Gelegenheit ihre
Meynung davon sagten, gute Anschläge gaben; oder sonst
ihre Betrachtungen drüber anstelleten. Da nun die Poeten
die gantze Natur solcher offentlichen Handlungen vorstel-
len wollten und sollten; so musten sie auch die Zuschauer der-
selben auf die Bühne bringen: Und das war denn der Chor;
der also nicht nur zum Singen, sondern auch sonst als eine
spielende Person mit gebraucht wurde. Denn der Corypheus
oder Führer desselben redete im Nahmen aller übrigen so gut
als eine andre Person darzwischen. Das heist bey Horatio:

Actoris partes chorus, officiumque virile
Defendat, neu quid medios intercinat actus
Quod non proposito conducat & cohaereat apte &c.

Doch war freylich wohl das Singen die fürnehmste Pflicht
des Chores, welches zu vier unterschiedenen mahlen, nehmlich
zwischen allen fünf Handlungen geschahe. Denn im An-
fange und am Ende der Tragödie sang er nicht; sondern es
traten sogleich die spielenden Personen hervor, machten auch
mit ihrer Handlung den Beschluß: Wo nicht irgend der Chor,
doch ohne Gesang, das letzte Wort behielte; indem er eine er-
bauliche Betrachtung oder Nutzanwendung über das gantze
Schauspiel, in wenig Worten beyfügte. Alles nun, was

zwi-
N n 5

Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
Chor. Dieſer beſtund nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde
aus einer guten Anzahl von Weibern oder Maͤnnern, ſo die
Buͤrger einer Stadt vorſtelleten; bald aus einer Schaar
von Prieſtern und Aelteſten des Volcks, bald aus einer Men-
ge von Jungfrauen, bald einem Schwarme hoͤlliſcher Furien,
u. ſ. w. Dieſe Leute nun fanden ſich bald in der erſten Hand-
lung auf der Schaubuͤhne ein, und behielten ihren Platz bis
ans Ende des gantzen Spieles. Sie vertraten daſelbſt die
Stelle der Zuſchauer, die bey der Handlung, ſo man ſpielete,
zugegen geweſen, als ſie wircklich geſchehen. Denn das muß
man wiſſen, daß die wichtigſten Handlungen der alten Grie-
chiſchen und morgenlaͤndiſchen Fuͤrſten nicht zwiſchen vier
Waͤnden, ſondern oͤffentlich vor ihren Pallaͤſten, oder auf dem
Marckte ihrer Staͤdte vorgiengen. Da waren nun allezeit
eine Menge von Zuſchauern, die an dem Thun und Laſſen ih-
rer Koͤnige Theil nahmen; auch wohl nach Gelegenheit ihre
Meynung davon ſagten, gute Anſchlaͤge gaben; oder ſonſt
ihre Betrachtungen druͤber anſtelleten. Da nun die Poeten
die gantze Natur ſolcher offentlichen Handlungen vorſtel-
len wollten und ſollten; ſo muſten ſie auch die Zuſchauer der-
ſelben auf die Buͤhne bringen: Und das war denn der Chor;
der alſo nicht nur zum Singen, ſondern auch ſonſt als eine
ſpielende Perſon mit gebraucht wurde. Denn der Corypheus
oder Fuͤhrer deſſelben redete im Nahmen aller uͤbrigen ſo gut
als eine andre Perſon darzwiſchen. Das heiſt bey Horatio:

Actoris partes chorus, officiumque virile
Defendat, neu quid medios intercinat actus
Quod non propoſito conducat & cohaereat apte &c.

Doch war freylich wohl das Singen die fuͤrnehmſte Pflicht
des Chores, welches zu vier unterſchiedenen mahlen, nehmlich
zwiſchen allen fuͤnf Handlungen geſchahe. Denn im An-
fange und am Ende der Tragoͤdie ſang er nicht; ſondern es
traten ſogleich die ſpielenden Perſonen hervor, machten auch
mit ihrer Handlung den Beſchluß: Wo nicht irgend der Chor,
doch ohne Geſang, das letzte Wort behielte; indem er eine er-
bauliche Betrachtung oder Nutzanwendung uͤber das gantze
Schauſpiel, in wenig Worten beyfuͤgte. Alles nun, was

zwi-
N n 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0597" n="569"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von Trago&#x0364;dien oder Trauer&#x017F;pielen.</hi></fw><lb/>
Chor. Die&#x017F;er be&#x017F;tund nach Be&#x017F;chaffenheit der Um&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
aus einer guten Anzahl von Weibern oder Ma&#x0364;nnern, &#x017F;o die<lb/>
Bu&#x0364;rger einer Stadt vor&#x017F;telleten; bald aus einer Schaar<lb/>
von Prie&#x017F;tern und Aelte&#x017F;ten des Volcks, bald aus einer Men-<lb/>
ge von Jungfrauen, bald einem Schwarme ho&#x0364;lli&#x017F;cher Furien,<lb/>
u. &#x017F;. w. Die&#x017F;e Leute nun fanden &#x017F;ich bald in der er&#x017F;ten Hand-<lb/>
lung auf der Schaubu&#x0364;hne ein, und behielten ihren Platz bis<lb/>
ans Ende des gantzen Spieles. Sie vertraten da&#x017F;elb&#x017F;t die<lb/>
Stelle der Zu&#x017F;chauer, die bey der Handlung, &#x017F;o man &#x017F;pielete,<lb/>
zugegen gewe&#x017F;en, als &#x017F;ie wircklich ge&#x017F;chehen. Denn das muß<lb/>
man wi&#x017F;&#x017F;en, daß die wichtig&#x017F;ten Handlungen der alten Grie-<lb/>
chi&#x017F;chen und morgenla&#x0364;ndi&#x017F;chen Fu&#x0364;r&#x017F;ten nicht zwi&#x017F;chen vier<lb/>
Wa&#x0364;nden, &#x017F;ondern o&#x0364;ffentlich vor ihren Palla&#x0364;&#x017F;ten, oder auf dem<lb/>
Marckte ihrer Sta&#x0364;dte vorgiengen. Da waren nun allezeit<lb/>
eine Menge von Zu&#x017F;chauern, die an dem Thun und La&#x017F;&#x017F;en ih-<lb/>
rer Ko&#x0364;nige Theil nahmen; auch wohl nach Gelegenheit ihre<lb/>
Meynung davon &#x017F;agten, gute An&#x017F;chla&#x0364;ge gaben; oder &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
ihre Betrachtungen dru&#x0364;ber an&#x017F;telleten. Da nun die Poeten<lb/>
die gantze Natur &#x017F;olcher offentlichen Handlungen vor&#x017F;tel-<lb/>
len wollten und &#x017F;ollten; &#x017F;o mu&#x017F;ten &#x017F;ie auch die Zu&#x017F;chauer der-<lb/>
&#x017F;elben auf die Bu&#x0364;hne bringen: Und das war denn der Chor;<lb/>
der al&#x017F;o nicht nur zum Singen, &#x017F;ondern auch &#x017F;on&#x017F;t als eine<lb/>
&#x017F;pielende Per&#x017F;on mit gebraucht wurde. Denn der Corypheus<lb/>
oder Fu&#x0364;hrer de&#x017F;&#x017F;elben redete im Nahmen aller u&#x0364;brigen &#x017F;o gut<lb/>
als eine andre Per&#x017F;on darzwi&#x017F;chen. Das hei&#x017F;t bey Horatio:</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Actoris partes chorus, officiumque virile<lb/>
Defendat, neu quid medios intercinat actus<lb/>
Quod non propo&#x017F;ito conducat &amp; cohaereat apte &amp;c.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Doch war freylich wohl das Singen die fu&#x0364;rnehm&#x017F;te Pflicht<lb/>
des Chores, welches zu vier unter&#x017F;chiedenen mahlen, nehmlich<lb/>
zwi&#x017F;chen allen fu&#x0364;nf Handlungen ge&#x017F;chahe. Denn im An-<lb/>
fange und am Ende der Trago&#x0364;die &#x017F;ang er nicht; &#x017F;ondern es<lb/>
traten &#x017F;ogleich die &#x017F;pielenden Per&#x017F;onen hervor, machten auch<lb/>
mit ihrer Handlung den Be&#x017F;chluß: Wo nicht irgend der Chor,<lb/>
doch ohne Ge&#x017F;ang, das letzte Wort behielte; indem er eine er-<lb/>
bauliche Betrachtung oder Nutzanwendung u&#x0364;ber das gantze<lb/>
Schau&#x017F;piel, in wenig Worten beyfu&#x0364;gte. Alles nun, was<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N n 5</fw><fw place="bottom" type="catch">zwi-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[569/0597] Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen. Chor. Dieſer beſtund nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde aus einer guten Anzahl von Weibern oder Maͤnnern, ſo die Buͤrger einer Stadt vorſtelleten; bald aus einer Schaar von Prieſtern und Aelteſten des Volcks, bald aus einer Men- ge von Jungfrauen, bald einem Schwarme hoͤlliſcher Furien, u. ſ. w. Dieſe Leute nun fanden ſich bald in der erſten Hand- lung auf der Schaubuͤhne ein, und behielten ihren Platz bis ans Ende des gantzen Spieles. Sie vertraten daſelbſt die Stelle der Zuſchauer, die bey der Handlung, ſo man ſpielete, zugegen geweſen, als ſie wircklich geſchehen. Denn das muß man wiſſen, daß die wichtigſten Handlungen der alten Grie- chiſchen und morgenlaͤndiſchen Fuͤrſten nicht zwiſchen vier Waͤnden, ſondern oͤffentlich vor ihren Pallaͤſten, oder auf dem Marckte ihrer Staͤdte vorgiengen. Da waren nun allezeit eine Menge von Zuſchauern, die an dem Thun und Laſſen ih- rer Koͤnige Theil nahmen; auch wohl nach Gelegenheit ihre Meynung davon ſagten, gute Anſchlaͤge gaben; oder ſonſt ihre Betrachtungen druͤber anſtelleten. Da nun die Poeten die gantze Natur ſolcher offentlichen Handlungen vorſtel- len wollten und ſollten; ſo muſten ſie auch die Zuſchauer der- ſelben auf die Buͤhne bringen: Und das war denn der Chor; der alſo nicht nur zum Singen, ſondern auch ſonſt als eine ſpielende Perſon mit gebraucht wurde. Denn der Corypheus oder Fuͤhrer deſſelben redete im Nahmen aller uͤbrigen ſo gut als eine andre Perſon darzwiſchen. Das heiſt bey Horatio: Actoris partes chorus, officiumque virile Defendat, neu quid medios intercinat actus Quod non propoſito conducat & cohaereat apte &c. Doch war freylich wohl das Singen die fuͤrnehmſte Pflicht des Chores, welches zu vier unterſchiedenen mahlen, nehmlich zwiſchen allen fuͤnf Handlungen geſchahe. Denn im An- fange und am Ende der Tragoͤdie ſang er nicht; ſondern es traten ſogleich die ſpielenden Perſonen hervor, machten auch mit ihrer Handlung den Beſchluß: Wo nicht irgend der Chor, doch ohne Geſang, das letzte Wort behielte; indem er eine er- bauliche Betrachtung oder Nutzanwendung uͤber das gantze Schauſpiel, in wenig Worten beyfuͤgte. Alles nun, was zwi- N n 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/597
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 569. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/597>, abgerufen am 25.11.2024.