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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils XI Capitel
Res gestae, Regumque Ducumque & tristia bella,
Quo scribi possent numero, monstrauit Homerus.

Eine Handlung setzt allezeit jemanden zum voraus, der sie
verrichtet; und das sind hier ausdrücklich die Grossen der
Welt, Könige und Fürsten, Helden und Kriegs-Obersten;
Ein Achilles und Agamemnon, ein Ulysses und Eneas. Nach
der obigen Regel, muß der Poet seine Handlung eher wissen
als den, der sie gethan hat: Denn jene muß allgemein aus-
gedacht, und nur unter einem bekannten und berühmten Nah-
men versteckt werden. Die Natur der Fabeln bringt sol-
ches mit sich. Esopus sagt uns viel vom Wolfe, vom
Schaafe, vom Hunde, u. s. w. nicht als wenn er uns die
Historien dieser Thiere bekannt machen wollte: sondern weil
er uns unter ihren Bildern und Nahmen gewisse allegorische
Handlungen erzehlen und dadurch unterrichten will. Also
ist denn die Handlung in einer Fabel wichtiger als die Per-
son so sie unternimmt und ausführet.

Daher hat man denn allezeit diejenigen Dichter mit
Grunde verdammet, welche nicht eine Handlung, sondern
eine Person zur Materie ihrer Gedichte genommen. Ari-
stoteles tadelt diejenigen, so eine Theseis, Heracleis, u. d. gl.
gemacht, darinn sie den Theseus, Hercules, u. a. m. beschrie-
ben hatten. Statii Achilleis gehört eben dahin, wie oben
gedacht worden, weil er nicht eine Handlung Achillis, sondern
den gantzen Achilles besungen. Wenn gleich die Odyssee
vom Ulysses, und die Eneis vom Eneas den Nahmen hat; so
zeigt doch der Jnhalt zur Gnüge; daß es nicht Lebensläufe
dieser Helden seyn sollen. Giebt doch auch Esopus z. E. sei-
ner Fabel den Nahmen: Der Löwe und die Maus; ob er
gleich nur eine einzige Handlung von diesen Thieren erzehlt.

Es giebt aber auch diese Lehre von der Handlung eine
Regel, was zu einem solchen Gedichte gehöret, und was nicht
dazu gehöret. Alles was nöthig ist dieselbe recht zu begrei-
fen, ihre Möglichkeit und ihre Wirckungen aus ihren
Ursachen, einzusehen, das muß mit in die Fabel kommen: Al-
les übrige muß heraus bleiben. So bekommt denn ein Ge-
dichte seine gehörige Größe. Ein Stümper würde alles

hin-
Des II Theils XI Capitel
Res geſtae, Regumque Ducumque & triſtia bella,
Quo ſcribi poſſent numero, monſtrauit Homerus.

Eine Handlung ſetzt allezeit jemanden zum voraus, der ſie
verrichtet; und das ſind hier ausdruͤcklich die Groſſen der
Welt, Koͤnige und Fuͤrſten, Helden und Kriegs-Oberſten;
Ein Achilles und Agamemnon, ein Ulyſſes und Eneas. Nach
der obigen Regel, muß der Poet ſeine Handlung eher wiſſen
als den, der ſie gethan hat: Denn jene muß allgemein aus-
gedacht, und nur unter einem bekannten und beruͤhmten Nah-
men verſteckt werden. Die Natur der Fabeln bringt ſol-
ches mit ſich. Eſopus ſagt uns viel vom Wolfe, vom
Schaafe, vom Hunde, u. ſ. w. nicht als wenn er uns die
Hiſtorien dieſer Thiere bekannt machen wollte: ſondern weil
er uns unter ihren Bildern und Nahmen gewiſſe allegoriſche
Handlungen erzehlen und dadurch unterrichten will. Alſo
iſt denn die Handlung in einer Fabel wichtiger als die Per-
ſon ſo ſie unternimmt und ausfuͤhret.

Daher hat man denn allezeit diejenigen Dichter mit
Grunde verdammet, welche nicht eine Handlung, ſondern
eine Perſon zur Materie ihrer Gedichte genommen. Ari-
ſtoteles tadelt diejenigen, ſo eine Theſeis, Heracleis, u. d. gl.
gemacht, darinn ſie den Theſeus, Hercules, u. a. m. beſchrie-
ben hatten. Statii Achilleis gehoͤrt eben dahin, wie oben
gedacht worden, weil er nicht eine Handlung Achillis, ſondern
den gantzen Achilles beſungen. Wenn gleich die Odyſſee
vom Ulyſſes, und die Eneis vom Eneas den Nahmen hat; ſo
zeigt doch der Jnhalt zur Gnuͤge; daß es nicht Lebenslaͤufe
dieſer Helden ſeyn ſollen. Giebt doch auch Eſopus z. E. ſei-
ner Fabel den Nahmen: Der Loͤwe und die Maus; ob er
gleich nur eine einzige Handlung von dieſen Thieren erzehlt.

Es giebt aber auch dieſe Lehre von der Handlung eine
Regel, was zu einem ſolchen Gedichte gehoͤret, und was nicht
dazu gehoͤret. Alles was noͤthig iſt dieſelbe recht zu begrei-
fen, ihre Moͤglichkeit und ihre Wirckungen aus ihren
Urſachen, einzuſehen, das muß mit in die Fabel kommen: Al-
les uͤbrige muß heraus bleiben. So bekommt denn ein Ge-
dichte ſeine gehoͤrige Groͤße. Ein Stuͤmper wuͤrde alles

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[552/0580] Des II Theils XI Capitel Res geſtae, Regumque Ducumque & triſtia bella, Quo ſcribi poſſent numero, monſtrauit Homerus. Eine Handlung ſetzt allezeit jemanden zum voraus, der ſie verrichtet; und das ſind hier ausdruͤcklich die Groſſen der Welt, Koͤnige und Fuͤrſten, Helden und Kriegs-Oberſten; Ein Achilles und Agamemnon, ein Ulyſſes und Eneas. Nach der obigen Regel, muß der Poet ſeine Handlung eher wiſſen als den, der ſie gethan hat: Denn jene muß allgemein aus- gedacht, und nur unter einem bekannten und beruͤhmten Nah- men verſteckt werden. Die Natur der Fabeln bringt ſol- ches mit ſich. Eſopus ſagt uns viel vom Wolfe, vom Schaafe, vom Hunde, u. ſ. w. nicht als wenn er uns die Hiſtorien dieſer Thiere bekannt machen wollte: ſondern weil er uns unter ihren Bildern und Nahmen gewiſſe allegoriſche Handlungen erzehlen und dadurch unterrichten will. Alſo iſt denn die Handlung in einer Fabel wichtiger als die Per- ſon ſo ſie unternimmt und ausfuͤhret. Daher hat man denn allezeit diejenigen Dichter mit Grunde verdammet, welche nicht eine Handlung, ſondern eine Perſon zur Materie ihrer Gedichte genommen. Ari- ſtoteles tadelt diejenigen, ſo eine Theſeis, Heracleis, u. d. gl. gemacht, darinn ſie den Theſeus, Hercules, u. a. m. beſchrie- ben hatten. Statii Achilleis gehoͤrt eben dahin, wie oben gedacht worden, weil er nicht eine Handlung Achillis, ſondern den gantzen Achilles beſungen. Wenn gleich die Odyſſee vom Ulyſſes, und die Eneis vom Eneas den Nahmen hat; ſo zeigt doch der Jnhalt zur Gnuͤge; daß es nicht Lebenslaͤufe dieſer Helden ſeyn ſollen. Giebt doch auch Eſopus z. E. ſei- ner Fabel den Nahmen: Der Loͤwe und die Maus; ob er gleich nur eine einzige Handlung von dieſen Thieren erzehlt. Es giebt aber auch dieſe Lehre von der Handlung eine Regel, was zu einem ſolchen Gedichte gehoͤret, und was nicht dazu gehoͤret. Alles was noͤthig iſt dieſelbe recht zu begrei- fen, ihre Moͤglichkeit und ihre Wirckungen aus ihren Urſachen, einzuſehen, das muß mit in die Fabel kommen: Al- les uͤbrige muß heraus bleiben. So bekommt denn ein Ge- dichte ſeine gehoͤrige Groͤße. Ein Stuͤmper wuͤrde alles hin-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/580>, abgerufen am 25.11.2024.