haben ihn längst in unsrer Sprache, und zwar in eben solchen fünffüßigen ungereimten Versen übersetzt gehabt, ob wohl sich die Edition schon was rar gemacht. Wie wir denn von allen alten Gedichten bis auf den Tasso, Ariost und Marin Ubersetzungen haben, die aber nach Beschaffenheit der Zeiten besser oder schlechter gerathen sind.
Es ist Zeit, von dem historisch-critischen Theile dieses Capitels auf den dogmatischen zu kommen; und demjenigen, der die innere Einrichtung der alten Helden-Gedichte recht einsehen, oder gar selbst ein neues verfertigen will, einige An- leitung dazu zu geben. Was vollkommenes läßt sich von ei- nem so grossen Wercke in wenigen Blättern nicht sagen. Man muß Aristotelis Poetic mit Daciers Noten, und den Pater le Bossu selbst lesen, wenn man alles ausführlich wis- sen will. Jch werde mich begnügen, nur einen kurtzen Aus- zug aus ihren Büchern zu machen.
Was eine epische Fabel sey, ist in dem vierten Capitel des ersten Theils dieser Dicht-Kunst allbereit gewiesen, und bisher unvermerckt wiederholet worden. Ein Helden-Ge- dicht überhaupt beschreibt man: Es sey die Nachahmung ei- ner berühmten Handlung, die so wichtig ist, daß sie ein gantzes Volck, ja wo möglich mehr als eins angehet. Diese Nach- ahmung geschieht in einer wohlklingenden poetischen Schreib- Art, darinn der Verfasser theils selbst erzehlet was vorgegan- gen; theils aber seine Helden, so offt es sich thun läßt, selbst re- dend einführet. Und die Absicht dieser gantzen Nachah- mung ist die sinnliche Vorstellung einer wichtigen moralischen Wahrheit, die aus der gantzen Fabel auch mittelmäßigen Le- sern in die Augen leuchtet. Daß es nun mit den drey obge- dachten Helden-Gedichten der Alten diese Bewandniß habe, ist aus dem obigen schon abzunehmen: Jch will also nur stück- weise diejenigen Haupt-Puncte durchgehen, die bey einem Helden-Gedichte zu beobachten sind
Es sind deren sechse; I. die Fabel, II. die Handlung, III. die Erzehlung, IV. die Gemüths-Beschaffenheit der Per- sonen, V. die Erscheinung oder der Beystand der Gottheiten, VI. die Gedancken nebst der Schreib-Art.
Was
Des II Theils XI Capitel
haben ihn laͤngſt in unſrer Sprache, und zwar in eben ſolchen fuͤnffuͤßigen ungereimten Verſen uͤberſetzt gehabt, ob wohl ſich die Edition ſchon was rar gemacht. Wie wir denn von allen alten Gedichten bis auf den Taſſo, Arioſt und Marin Uberſetzungen haben, die aber nach Beſchaffenheit der Zeiten beſſer oder ſchlechter gerathen ſind.
Es iſt Zeit, von dem hiſtoriſch-critiſchen Theile dieſes Capitels auf den dogmatiſchen zu kommen; und demjenigen, der die innere Einrichtung der alten Helden-Gedichte recht einſehen, oder gar ſelbſt ein neues verfertigen will, einige An- leitung dazu zu geben. Was vollkommenes laͤßt ſich von ei- nem ſo groſſen Wercke in wenigen Blaͤttern nicht ſagen. Man muß Ariſtotelis Poetic mit Daciers Noten, und den Pater le Boſſu ſelbſt leſen, wenn man alles ausfuͤhrlich wiſ- ſen will. Jch werde mich begnuͤgen, nur einen kurtzen Aus- zug aus ihren Buͤchern zu machen.
Was eine epiſche Fabel ſey, iſt in dem vierten Capitel des erſten Theils dieſer Dicht-Kunſt allbereit gewieſen, und bisher unvermerckt wiederholet worden. Ein Helden-Ge- dicht uͤberhaupt beſchreibt man: Es ſey die Nachahmung ei- ner beruͤhmten Handlung, die ſo wichtig iſt, daß ſie ein gantzes Volck, ja wo moͤglich mehr als eins angehet. Dieſe Nach- ahmung geſchieht in einer wohlklingenden poetiſchen Schreib- Art, darinn der Verfaſſer theils ſelbſt erzehlet was vorgegan- gen; theils aber ſeine Helden, ſo offt es ſich thun laͤßt, ſelbſt re- dend einfuͤhret. Und die Abſicht dieſer gantzen Nachah- mung iſt die ſinnliche Vorſtellung einer wichtigen moraliſchen Wahrheit, die aus der gantzen Fabel auch mittelmaͤßigen Le- ſern in die Augen leuchtet. Daß es nun mit den drey obge- dachten Helden-Gedichten der Alten dieſe Bewandniß habe, iſt aus dem obigen ſchon abzunehmen: Jch will alſo nur ſtuͤck- weiſe diejenigen Haupt-Puncte durchgehen, die bey einem Helden-Gedichte zu beobachten ſind
Es ſind deren ſechſe; I. die Fabel, II. die Handlung, III. die Erzehlung, IV. die Gemuͤths-Beſchaffenheit der Per- ſonen, V. die Erſcheinung oder der Beyſtand der Gottheiten, VI. die Gedancken nebſt der Schreib-Art.
Was
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Des II Theils XI Capitel
haben ihn laͤngſt in unſrer Sprache, und zwar in eben ſolchen
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ſich die Edition ſchon was rar gemacht. Wie wir denn von
allen alten Gedichten bis auf den Taſſo, Arioſt und Marin
Uberſetzungen haben, die aber nach Beſchaffenheit der Zeiten
beſſer oder ſchlechter gerathen ſind.
Es iſt Zeit, von dem hiſtoriſch-critiſchen Theile dieſes
Capitels auf den dogmatiſchen zu kommen; und demjenigen,
der die innere Einrichtung der alten Helden-Gedichte recht
einſehen, oder gar ſelbſt ein neues verfertigen will, einige An-
leitung dazu zu geben. Was vollkommenes laͤßt ſich von ei-
nem ſo groſſen Wercke in wenigen Blaͤttern nicht ſagen.
Man muß Ariſtotelis Poetic mit Daciers Noten, und den
Pater le Boſſu ſelbſt leſen, wenn man alles ausfuͤhrlich wiſ-
ſen will. Jch werde mich begnuͤgen, nur einen kurtzen Aus-
zug aus ihren Buͤchern zu machen.
Was eine epiſche Fabel ſey, iſt in dem vierten Capitel
des erſten Theils dieſer Dicht-Kunſt allbereit gewieſen, und
bisher unvermerckt wiederholet worden. Ein Helden-Ge-
dicht uͤberhaupt beſchreibt man: Es ſey die Nachahmung ei-
ner beruͤhmten Handlung, die ſo wichtig iſt, daß ſie ein gantzes
Volck, ja wo moͤglich mehr als eins angehet. Dieſe Nach-
ahmung geſchieht in einer wohlklingenden poetiſchen Schreib-
Art, darinn der Verfaſſer theils ſelbſt erzehlet was vorgegan-
gen; theils aber ſeine Helden, ſo offt es ſich thun laͤßt, ſelbſt re-
dend einfuͤhret. Und die Abſicht dieſer gantzen Nachah-
mung iſt die ſinnliche Vorſtellung einer wichtigen moraliſchen
Wahrheit, die aus der gantzen Fabel auch mittelmaͤßigen Le-
ſern in die Augen leuchtet. Daß es nun mit den drey obge-
dachten Helden-Gedichten der Alten dieſe Bewandniß habe,
iſt aus dem obigen ſchon abzunehmen: Jch will alſo nur ſtuͤck-
weiſe diejenigen Haupt-Puncte durchgehen, die bey einem
Helden-Gedichte zu beobachten ſind
Es ſind deren ſechſe; I. die Fabel, II. die Handlung,
III. die Erzehlung, IV. die Gemuͤths-Beſchaffenheit der Per-
ſonen, V. die Erſcheinung oder der Beyſtand der Gottheiten,
VI. die Gedancken nebſt der Schreib-Art.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/576>, abgerufen am 22.11.2024.
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