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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
fehrten Ulyßis so wohl, als die Buhler der Königin durch ihre
eigene Schuld umkommen läst: So wird sein Gedichte vor
hohe und niedrige erbaulich, und man kan mit Horatio sagen,
Homer sey ein Scribent

Qui quid sit pulcrum, quid turpe, quid vtile, quid non.
Plenius & melius Chrysippo & Crantore dicit. L. I. Ep.
2.

Jn die Fußtapfen des Homeri haben zwar unter den
Griechen verschiedene andre treten wollen; sind aber, weil
sie die Kunst nicht verstanden, alle verlohren gegangen. Ari-
stoteles hat uns in seiner Dicht-Kunst das Andencken etlicher
solchen Gedichte aufbehalten, indem er ihre Fehler angemer-
cket, da wir sonst nichts von ihnen wissen würden. Unter an-
dern gedenckt er einer kleinen Jlias, die den gantzen Trojani-
schen Krieg beschrieben, und ungeachtet dieses so weitläufti-
gen Vorhabens, doch nur gegen des Homeri Gedichte, eine
kleine Jlias genennet worden. Ohne Zweifel hat es diesem
Verfasser an dem rechten Begriffe, von einer guten epischen,
das ist, moralisch-allegorischen Fabel gefehlt: daher er sich
denn gleich ein gar zu grosses Werck unternommen, welches
in einem eintzigen Gedichte unmöglich nach Würden ausge-
führt werden konnte. Die übrigen Fehler dieses und andrer
übel gerathenen Griechischen Helden-Gedichte, muß man in
Aristotele selbst nachsuchen.

Unter den Römern hat Virgil das Hertz gehabt, sich an
die Epopee zu wagen; und die Geschicklichkeit besessen, dem
Homer so vernünftig nachzuahmen, daß er ihn in vielen Stü-
cken übertroffen. Seine Absicht mochte gewesen seyn, dem
Augusto, als Stifftern eines neuen Reichs, die Eigenschaff-
ten eines großen Helden und Regenten vorzubilden, und da-
durch die grausame Gemüths-Art ein wenig zu dämpfen, die
der Käyser in seinen ersten Jahren spüren ließ. Er nimmt
also die gemeine Sage der Römer, daß Eneas nach Jtalien
gekommen sey, vor bekannt an, und macht seine gantze Fabel
davon. Diesen kan er nunmehr als den Stiffter der Römi-
schen Monarchie vorstellig machen, und ihn so abschildern,
wie er selbst wollte, damit er nur seine moralische Wahrheit
dadurch ausführen könnte: Ein Stiffter neuer Reiche müsse

gottes-

Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
fehrten Ulyßis ſo wohl, als die Buhler der Koͤnigin durch ihre
eigene Schuld umkommen laͤſt: So wird ſein Gedichte vor
hohe und niedrige erbaulich, und man kan mit Horatio ſagen,
Homer ſey ein Scribent

Qui quid ſit pulcrum, quid turpe, quid vtile, quid non.
Plenius & melius Chryſippo & Crantore dicit. L. I. Ep.
2.

Jn die Fußtapfen des Homeri haben zwar unter den
Griechen verſchiedene andre treten wollen; ſind aber, weil
ſie die Kunſt nicht verſtanden, alle verlohren gegangen. Ari-
ſtoteles hat uns in ſeiner Dicht-Kunſt das Andencken etlicher
ſolchen Gedichte aufbehalten, indem er ihre Fehler angemer-
cket, da wir ſonſt nichts von ihnen wiſſen wuͤrden. Unter an-
dern gedenckt er einer kleinen Jlias, die den gantzen Trojani-
ſchen Krieg beſchrieben, und ungeachtet dieſes ſo weitlaͤufti-
gen Vorhabens, doch nur gegen des Homeri Gedichte, eine
kleine Jlias genennet worden. Ohne Zweifel hat es dieſem
Verfaſſer an dem rechten Begriffe, von einer guten epiſchen,
das iſt, moraliſch-allegoriſchen Fabel gefehlt: daher er ſich
denn gleich ein gar zu groſſes Werck unternommen, welches
in einem eintzigen Gedichte unmoͤglich nach Wuͤrden ausge-
fuͤhrt werden konnte. Die uͤbrigen Fehler dieſes und andrer
uͤbel gerathenen Griechiſchen Helden-Gedichte, muß man in
Ariſtotele ſelbſt nachſuchen.

Unter den Roͤmern hat Virgil das Hertz gehabt, ſich an
die Epopee zu wagen; und die Geſchicklichkeit beſeſſen, dem
Homer ſo vernuͤnftig nachzuahmen, daß er ihn in vielen Stuͤ-
cken uͤbertroffen. Seine Abſicht mochte geweſen ſeyn, dem
Auguſto, als Stifftern eines neuen Reichs, die Eigenſchaff-
ten eines großen Helden und Regenten vorzubilden, und da-
durch die grauſame Gemuͤths-Art ein wenig zu daͤmpfen, die
der Kaͤyſer in ſeinen erſten Jahren ſpuͤren ließ. Er nimmt
alſo die gemeine Sage der Roͤmer, daß Eneas nach Jtalien
gekommen ſey, vor bekannt an, und macht ſeine gantze Fabel
davon. Dieſen kan er nunmehr als den Stiffter der Roͤmi-
ſchen Monarchie vorſtellig machen, und ihn ſo abſchildern,
wie er ſelbſt wollte, damit er nur ſeine moraliſche Wahrheit
dadurch ausfuͤhren koͤnnte: Ein Stiffter neuer Reiche muͤſſe

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[541/0569] Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte. fehrten Ulyßis ſo wohl, als die Buhler der Koͤnigin durch ihre eigene Schuld umkommen laͤſt: So wird ſein Gedichte vor hohe und niedrige erbaulich, und man kan mit Horatio ſagen, Homer ſey ein Scribent Qui quid ſit pulcrum, quid turpe, quid vtile, quid non. Plenius & melius Chryſippo & Crantore dicit. L. I. Ep. 2. Jn die Fußtapfen des Homeri haben zwar unter den Griechen verſchiedene andre treten wollen; ſind aber, weil ſie die Kunſt nicht verſtanden, alle verlohren gegangen. Ari- ſtoteles hat uns in ſeiner Dicht-Kunſt das Andencken etlicher ſolchen Gedichte aufbehalten, indem er ihre Fehler angemer- cket, da wir ſonſt nichts von ihnen wiſſen wuͤrden. Unter an- dern gedenckt er einer kleinen Jlias, die den gantzen Trojani- ſchen Krieg beſchrieben, und ungeachtet dieſes ſo weitlaͤufti- gen Vorhabens, doch nur gegen des Homeri Gedichte, eine kleine Jlias genennet worden. Ohne Zweifel hat es dieſem Verfaſſer an dem rechten Begriffe, von einer guten epiſchen, das iſt, moraliſch-allegoriſchen Fabel gefehlt: daher er ſich denn gleich ein gar zu groſſes Werck unternommen, welches in einem eintzigen Gedichte unmoͤglich nach Wuͤrden ausge- fuͤhrt werden konnte. Die uͤbrigen Fehler dieſes und andrer uͤbel gerathenen Griechiſchen Helden-Gedichte, muß man in Ariſtotele ſelbſt nachſuchen. Unter den Roͤmern hat Virgil das Hertz gehabt, ſich an die Epopee zu wagen; und die Geſchicklichkeit beſeſſen, dem Homer ſo vernuͤnftig nachzuahmen, daß er ihn in vielen Stuͤ- cken uͤbertroffen. Seine Abſicht mochte geweſen ſeyn, dem Auguſto, als Stifftern eines neuen Reichs, die Eigenſchaff- ten eines großen Helden und Regenten vorzubilden, und da- durch die grauſame Gemuͤths-Art ein wenig zu daͤmpfen, die der Kaͤyſer in ſeinen erſten Jahren ſpuͤren ließ. Er nimmt alſo die gemeine Sage der Roͤmer, daß Eneas nach Jtalien gekommen ſey, vor bekannt an, und macht ſeine gantze Fabel davon. Dieſen kan er nunmehr als den Stiffter der Roͤmi- ſchen Monarchie vorſtellig machen, und ihn ſo abſchildern, wie er ſelbſt wollte, damit er nur ſeine moraliſche Wahrheit dadurch ausfuͤhren koͤnnte: Ein Stiffter neuer Reiche muͤſſe gottes-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 541. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/569>, abgerufen am 22.11.2024.