Boileau nach den Regeln ihrer lieben Logick, wie sie selbst schreibt, mit so vieler Einsicht und Scharfsinnigkeit; daß man ihr gröstentheils Recht geben muß. Und endlich ver- gleicht sie den ersten Gesang seiner Dicht-Kunst mit einem zer- drümmerten Tempel Apollinis, wo hier ein schöner Pfeiler, da ein prächtiger Altar, dort ein treffliches Gemählde, hier wieder ein köstliches Marmor-Bild u. s. f. ohne Ordnung und Verbindung über und durch einander geworfen, läge. Ja sie macht selbst eine gantz neue Einrichtung dieses zerschlage- nen Gebäudes. Sie ordnet seine Materien gantz anders; und zeigt, daß hier und da manche Lücke auszufüllen, ander- werts aber viel überflüßiges weg zu werfen wäre. Und was dieselbe, von diesem Meister-Stücke des berühmten De- spreaux mit so gutem Grunde behauptet, das liesse sich frey- lich von allen übrigen dogmatischen Poesien ebenfalls dar- thun, wenn man sie so genau auf die Probe stellen wollte.
Jch gebe es also zu, daß man eine Wissenschafft mit völ- liger Gründlichkeit, weder synthetisch noch analytisch in Poe- sien abhandeln könne. Wer ein Freund einer so strengen Lehr-Art ist, wo man nichts unerklärt und unerwiesen an- nimmt; der muß solche poetische Abhandlungen nicht lesen. Die Poeten bescheiden sichs auch gar leicht, daß sie keine geo- metrische Methode in Ausführung ihrer Materien beobach- ten. Das würde sehr trockene Verse und einen schläfrigen Vortrag geben. Die tiefsinnigsten philosophischen Geister mögen sich also nur an ihre ordentliche prosaische Schreib- Art halten. Wenn sich die Poeten in ihre Wissenschafften mengen, so thun sie es nur den mittelmäßigen Köpfen zu ge- fallen, die nur einiger massen was davon wissen wollen; und sich um den höchsten Grad der Gründlichkeit nicht beküm- mern. Diese machen allezeit den grösten Theil des mensch- lichen Geschlechts aus, und da ist es genug, wenn man ihnen nur nichts falsches sagt; das Wahre aber in solcher Ord- nung vorträgt, daß man sie ziemlich verstehen und ihren Zu- sammenhang wenigstens klar einsehen könne; dabey aber al- les mit Zierrathen einer poetischen Schreib-Art so lebhafft und sinnreich ausbildet, daß man es mit Lust und Vergnü-
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Von dogmatiſchen Poeſien.
Boileau nach den Regeln ihrer lieben Logick, wie ſie ſelbſt ſchreibt, mit ſo vieler Einſicht und Scharfſinnigkeit; daß man ihr groͤſtentheils Recht geben muß. Und endlich ver- gleicht ſie den erſten Geſang ſeiner Dicht-Kunſt mit einem zer- druͤmmerten Tempel Apollinis, wo hier ein ſchoͤner Pfeiler, da ein praͤchtiger Altar, dort ein treffliches Gemaͤhlde, hier wieder ein koͤſtliches Marmor-Bild u. ſ. f. ohne Ordnung und Verbindung uͤber und durch einander geworfen, laͤge. Ja ſie macht ſelbſt eine gantz neue Einrichtung dieſes zerſchlage- nen Gebaͤudes. Sie ordnet ſeine Materien gantz anders; und zeigt, daß hier und da manche Luͤcke auszufuͤllen, ander- werts aber viel uͤberfluͤßiges weg zu werfen waͤre. Und was dieſelbe, von dieſem Meiſter-Stuͤcke des beruͤhmten De- ſpreaux mit ſo gutem Grunde behauptet, das lieſſe ſich frey- lich von allen uͤbrigen dogmatiſchen Poeſien ebenfalls dar- thun, wenn man ſie ſo genau auf die Probe ſtellen wollte.
Jch gebe es alſo zu, daß man eine Wiſſenſchafft mit voͤl- liger Gruͤndlichkeit, weder ſynthetiſch noch analytiſch in Poe- ſien abhandeln koͤnne. Wer ein Freund einer ſo ſtrengen Lehr-Art iſt, wo man nichts unerklaͤrt und unerwieſen an- nimmt; der muß ſolche poetiſche Abhandlungen nicht leſen. Die Poeten beſcheiden ſichs auch gar leicht, daß ſie keine geo- metriſche Methode in Ausfuͤhrung ihrer Materien beobach- ten. Das wuͤrde ſehr trockene Verſe und einen ſchlaͤfrigen Vortrag geben. Die tiefſinnigſten philoſophiſchen Geiſter moͤgen ſich alſo nur an ihre ordentliche proſaiſche Schreib- Art halten. Wenn ſich die Poeten in ihre Wiſſenſchafften mengen, ſo thun ſie es nur den mittelmaͤßigen Koͤpfen zu ge- fallen, die nur einiger maſſen was davon wiſſen wollen; und ſich um den hoͤchſten Grad der Gruͤndlichkeit nicht bekuͤm- mern. Dieſe machen allezeit den groͤſten Theil des menſch- lichen Geſchlechts aus, und da iſt es genug, wenn man ihnen nur nichts falſches ſagt; das Wahre aber in ſolcher Ord- nung vortraͤgt, daß man ſie ziemlich verſtehen und ihren Zu- ſammenhang wenigſtens klar einſehen koͤnne; dabey aber al- les mit Zierrathen einer poetiſchen Schreib-Art ſo lebhafft und ſinnreich ausbildet, daß man es mit Luſt und Vergnuͤ-
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Von dogmatiſchen Poeſien.
Boileau nach den Regeln ihrer lieben Logick, wie ſie ſelbſt
ſchreibt, mit ſo vieler Einſicht und Scharfſinnigkeit; daß
man ihr groͤſtentheils Recht geben muß. Und endlich ver-
gleicht ſie den erſten Geſang ſeiner Dicht-Kunſt mit einem zer-
druͤmmerten Tempel Apollinis, wo hier ein ſchoͤner Pfeiler,
da ein praͤchtiger Altar, dort ein treffliches Gemaͤhlde, hier
wieder ein koͤſtliches Marmor-Bild u. ſ. f. ohne Ordnung und
Verbindung uͤber und durch einander geworfen, laͤge. Ja
ſie macht ſelbſt eine gantz neue Einrichtung dieſes zerſchlage-
nen Gebaͤudes. Sie ordnet ſeine Materien gantz anders;
und zeigt, daß hier und da manche Luͤcke auszufuͤllen, ander-
werts aber viel uͤberfluͤßiges weg zu werfen waͤre. Und was
dieſelbe, von dieſem Meiſter-Stuͤcke des beruͤhmten De-
ſpreaux mit ſo gutem Grunde behauptet, das lieſſe ſich frey-
lich von allen uͤbrigen dogmatiſchen Poeſien ebenfalls dar-
thun, wenn man ſie ſo genau auf die Probe ſtellen wollte.
Jch gebe es alſo zu, daß man eine Wiſſenſchafft mit voͤl-
liger Gruͤndlichkeit, weder ſynthetiſch noch analytiſch in Poe-
ſien abhandeln koͤnne. Wer ein Freund einer ſo ſtrengen
Lehr-Art iſt, wo man nichts unerklaͤrt und unerwieſen an-
nimmt; der muß ſolche poetiſche Abhandlungen nicht leſen.
Die Poeten beſcheiden ſichs auch gar leicht, daß ſie keine geo-
metriſche Methode in Ausfuͤhrung ihrer Materien beobach-
ten. Das wuͤrde ſehr trockene Verſe und einen ſchlaͤfrigen
Vortrag geben. Die tiefſinnigſten philoſophiſchen Geiſter
moͤgen ſich alſo nur an ihre ordentliche proſaiſche Schreib-
Art halten. Wenn ſich die Poeten in ihre Wiſſenſchafften
mengen, ſo thun ſie es nur den mittelmaͤßigen Koͤpfen zu ge-
fallen, die nur einiger maſſen was davon wiſſen wollen; und
ſich um den hoͤchſten Grad der Gruͤndlichkeit nicht bekuͤm-
mern. Dieſe machen allezeit den groͤſten Theil des menſch-
lichen Geſchlechts aus, und da iſt es genug, wenn man ihnen
nur nichts falſches ſagt; das Wahre aber in ſolcher Ord-
nung vortraͤgt, daß man ſie ziemlich verſtehen und ihren Zu-
ſammenhang wenigſtens klar einſehen koͤnne; dabey aber al-
les mit Zierrathen einer poetiſchen Schreib-Art ſo lebhafft
und ſinnreich ausbildet, daß man es mit Luſt und Vergnuͤ-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/543>, abgerufen am 23.07.2024.
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