Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Horatius von der Dicht Kunst.

Jst immer voll Verdruß, bedroht und straft die Jugend,
230Und setzt sein eigen Werck zur Regel aller Tugend.

Der Jahre Wachsthum bringt uns Stärcke Muth u. Krafft,
Und wenn das Alter kommt, wird alles hingerafft.
Drum laß den Jüngling nie des Greisen Rolle machen,
Kein Greis sey Knaben gleich. Man muß in allen Sachen,
235Auf das, was sich geziemt, und auf den Wohlstand sehn.

Was sich nicht spielen läst, so wie es ist geschehn,
Davon erzehlt man bloß die Nachricht auf den Bühnen.
Doch, was das Ohr nur hört, so kräfftig es geschienen,
Dringt lange nicht so tief in die Gemüther ein,
240Als was man selber sieht. Wiewohl was Dinge seyn,

Die man nicht zeigen mag, die darf das Volck nicht sehen:
Man trägt sie mündlich vor, als wären sie geschehen.
Medea darf den Mord an ihrer Leibes-Frucht
Nicht öffentlich begehn. Des Atreus Eifersucht,
245Giebt dem Thyestes zwar, das Fleisch gekochter Knaben,

Doch darf man Topf und Heerd nicht selbst gesehen haben,
Wo sie gesotten sind. Verwandelt Progne sich,
Wird Cadmus eine Schlang; alsdann bediene dich
Der Freyheit nimmermehr, dergleichen sehn zu lassen:
250Jch glaub es warlich nicht, und werd es ewig hassen.
243
247
Ein
sie weichlich und wollüstig von Natur sind. Wenn also ein Todschlag vorgeht,
so wird er nur erzehlt, als wenn er hinter den Scenen vorgegangen wäre. Die En-
gelländer und wir Deutschen haben dergleichen blutige Dinge gern: wenige Perso-
nen ausgenommen, die kein Blut sehen können.
243 Medea. Wir haben oben gehört, daß sie ihre beyde Kinder ermordet habe.
Wenn nun ein Poet ein Trauerspiel davon machte, darf er sie diese schändliche
Mordthat nicht vor den Augen der Zuschauer begehen lassen. Seneca hat es in-
dessen in seiner Tragödie doch gethan, und also Horatii Regel überschritten: der
aber, wie leicht erhellet, nicht alle, sondern nur die grausamsten Mordthaten auf
der Schaubühne vor unanständig erkläret; wie denn alle drey griechische Tragö-
dienschreiber sich nicht gäntzlich der blutigen Handlungen enthalten haben.
247 Progne soll sich in eine Schwalbe, wie Philomele in eine Nachtigall,
Cadmus aber in eine Schlange verwandelt haben. Jn der Fabel ist dieß angenehm
zu lesen, aber es wird lächerlich, ja unglaublich, wenn man es sichtbar vorstellen
wollte. Daher kan man urtheilen, was von der Verwandlung eines Mannes in
einen Hund zu halten sey, die uns gleichwohl in einer gewissen neuen Comödie auf
der Schaubühne hätte gezeiget werden sollen, wenn sie jemahls gespielet wäre.
B 5

Horatius von der Dicht Kunſt.

Jſt immer voll Verdruß, bedroht und ſtraft die Jugend,
230Und ſetzt ſein eigen Werck zur Regel aller Tugend.

Der Jahre Wachsthum bringt uns Staͤrcke Muth u. Krafft,
Und wenn das Alter kommt, wird alles hingerafft.
Drum laß den Juͤngling nie des Greiſen Rolle machen,
Kein Greis ſey Knaben gleich. Man muß in allen Sachen,
235Auf das, was ſich geziemt, und auf den Wohlſtand ſehn.

Was ſich nicht ſpielen laͤſt, ſo wie es iſt geſchehn,
Davon erzehlt man bloß die Nachricht auf den Buͤhnen.
Doch, was das Ohr nur hoͤrt, ſo kraͤfftig es geſchienen,
Dringt lange nicht ſo tief in die Gemuͤther ein,
240Als was man ſelber ſieht. Wiewohl was Dinge ſeyn,

Die man nicht zeigen mag, die darf das Volck nicht ſehen:
Man traͤgt ſie muͤndlich vor, als waͤren ſie geſchehen.
Medea darf den Mord an ihrer Leibes-Frucht
Nicht oͤffentlich begehn. Des Atreus Eiferſucht,
245Giebt dem Thyeſtes zwar, das Fleiſch gekochter Knaben,

Doch darf man Topf und Heerd nicht ſelbſt geſehen haben,
Wo ſie geſotten ſind. Verwandelt Progne ſich,
Wird Cadmus eine Schlang; alsdann bediene dich
Der Freyheit nimmermehr, dergleichen ſehn zu laſſen:
250Jch glaub es warlich nicht, und werd es ewig haſſen.
243
247
Ein
ſie weichlich und wolluͤſtig von Natur ſind. Wenn alſo ein Todſchlag vorgeht,
ſo wird er nur erzehlt, als wenn er hinter den Scenen vorgegangen waͤre. Die En-
gellaͤnder und wir Deutſchen haben dergleichen blutige Dinge gern: wenige Perſo-
nen ausgenommen, die kein Blut ſehen koͤnnen.
243 Medea. Wir haben oben gehoͤrt, daß ſie ihre beyde Kinder ermordet habe.
Wenn nun ein Poet ein Trauerſpiel davon machte, darf er ſie dieſe ſchaͤndliche
Mordthat nicht vor den Augen der Zuſchauer begehen laſſen. Seneca hat es in-
deſſen in ſeiner Tragoͤdie doch gethan, und alſo Horatii Regel uͤberſchritten: der
aber, wie leicht erhellet, nicht alle, ſondern nur die grauſamſten Mordthaten auf
der Schaubuͤhne vor unanſtaͤndig erklaͤret; wie denn alle drey griechiſche Tragoͤ-
dienſchreiber ſich nicht gaͤntzlich der blutigen Handlungen enthalten haben.
247 Progne ſoll ſich in eine Schwalbe, wie Philomele in eine Nachtigall,
Cadmus aber in eine Schlange verwandelt haben. Jn der Fabel iſt dieß angenehm
zu leſen, aber es wird laͤcherlich, ja unglaublich, wenn man es ſichtbar vorſtellen
wollte. Daher kan man urtheilen, was von der Verwandlung eines Mannes in
einen Hund zu halten ſey, die uns gleichwohl in einer gewiſſen neuen Comoͤdie auf
der Schaubuͤhne haͤtte gezeiget werden ſollen, wenn ſie jemahls geſpielet waͤre.
B 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="7">
              <l>
                <pb facs="#f0053" n="25"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht Kun&#x017F;t.</hi> </fw>
              </l><lb/>
              <l>J&#x017F;t immer voll Verdruß, bedroht und &#x017F;traft die Jugend,<lb/><note place="left">230</note>Und &#x017F;etzt &#x017F;ein eigen Werck zur Regel aller Tugend.</l><lb/>
              <l>Der Jahre Wachsthum bringt uns Sta&#x0364;rcke Muth u. Krafft,</l><lb/>
              <l>Und wenn das Alter kommt, wird alles hingerafft.</l><lb/>
              <l>Drum laß den Ju&#x0364;ngling nie des Grei&#x017F;en Rolle machen,</l><lb/>
              <l>Kein Greis &#x017F;ey Knaben gleich. Man muß in allen Sachen,<lb/><note place="left">235</note>Auf das, was &#x017F;ich geziemt, und auf den Wohl&#x017F;tand &#x017F;ehn.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="8">
              <l>Was &#x017F;ich nicht &#x017F;pielen la&#x0364;&#x017F;t, &#x017F;o wie es i&#x017F;t ge&#x017F;chehn,</l><lb/>
              <l>Davon erzehlt man bloß die Nachricht auf den Bu&#x0364;hnen.</l><lb/>
              <l>Doch, was das Ohr nur ho&#x0364;rt, &#x017F;o kra&#x0364;fftig es ge&#x017F;chienen,</l><lb/>
              <l>Dringt lange nicht &#x017F;o tief in die Gemu&#x0364;ther ein,<lb/><note place="left">240</note>Als was man &#x017F;elber &#x017F;ieht. Wiewohl was Dinge &#x017F;eyn,</l><lb/>
              <l>Die man nicht zeigen mag, die darf das Volck nicht &#x017F;ehen:</l><lb/>
              <l>Man tra&#x0364;gt &#x017F;ie mu&#x0364;ndlich vor, als wa&#x0364;ren &#x017F;ie ge&#x017F;chehen.</l><lb/>
              <l>Medea darf den Mord an ihrer Leibes-Frucht</l><lb/>
              <l>Nicht o&#x0364;ffentlich begehn. Des Atreus Eifer&#x017F;ucht,<lb/><note place="left">245</note>Giebt dem Thye&#x017F;tes zwar, das Flei&#x017F;ch gekochter Knaben,</l><lb/>
              <l>Doch darf man Topf und Heerd nicht &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;ehen haben,</l><lb/>
              <l>Wo &#x017F;ie ge&#x017F;otten &#x017F;ind. Verwandelt Progne &#x017F;ich,</l><lb/>
              <l>Wird Cadmus eine Schlang; alsdann bediene dich</l><lb/>
              <l>Der Freyheit nimmermehr, dergleichen &#x017F;ehn zu la&#x017F;&#x017F;en:<lb/><note place="left">250</note>Jch glaub es warlich nicht, und werd es ewig ha&#x017F;&#x017F;en.</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">B 5</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">Ein</fw><lb/>
            <note xml:id="f18" prev="#f17" place="foot" n="237">&#x017F;ie weichlich und wollu&#x0364;&#x017F;tig von Natur &#x017F;ind. Wenn al&#x017F;o ein Tod&#x017F;chlag vorgeht,<lb/>
&#x017F;o wird er nur erzehlt, als wenn er hinter den Scenen vorgegangen wa&#x0364;re. Die En-<lb/>
gella&#x0364;nder und wir Deut&#x017F;chen haben dergleichen blutige Dinge gern: wenige Per&#x017F;o-<lb/>
nen ausgenommen, die kein Blut &#x017F;ehen ko&#x0364;nnen.</note><lb/>
            <note place="foot" n="243"><hi rendition="#fr">Medea.</hi> Wir haben oben geho&#x0364;rt, daß &#x017F;ie ihre beyde Kinder ermordet habe.<lb/>
Wenn nun ein Poet ein Trauer&#x017F;piel davon machte, darf er &#x017F;ie die&#x017F;e &#x017F;cha&#x0364;ndliche<lb/>
Mordthat nicht vor den Augen der Zu&#x017F;chauer begehen la&#x017F;&#x017F;en. Seneca hat es in-<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en in &#x017F;einer Trago&#x0364;die doch gethan, und al&#x017F;o Horatii Regel u&#x0364;ber&#x017F;chritten: der<lb/>
aber, wie leicht erhellet, nicht alle, &#x017F;ondern nur die grau&#x017F;am&#x017F;ten Mordthaten auf<lb/>
der Schaubu&#x0364;hne vor unan&#x017F;ta&#x0364;ndig erkla&#x0364;ret; wie denn alle drey griechi&#x017F;che Trago&#x0364;-<lb/>
dien&#x017F;chreiber &#x017F;ich nicht ga&#x0364;ntzlich der blutigen Handlungen enthalten haben.</note><lb/>
            <note place="foot" n="247"><hi rendition="#fr">Progne</hi> &#x017F;oll &#x017F;ich in eine Schwalbe, wie Philomele in eine Nachtigall,<lb/>
Cadmus aber in eine Schlange verwandelt haben. Jn der Fabel i&#x017F;t dieß angenehm<lb/>
zu le&#x017F;en, aber es wird la&#x0364;cherlich, ja unglaublich, wenn man es &#x017F;ichtbar vor&#x017F;tellen<lb/>
wollte. Daher kan man urtheilen, was von der Verwandlung eines Mannes in<lb/>
einen Hund zu halten &#x017F;ey, die uns gleichwohl in einer gewi&#x017F;&#x017F;en neuen Como&#x0364;die auf<lb/>
der Schaubu&#x0364;hne ha&#x0364;tte gezeiget werden &#x017F;ollen, wenn &#x017F;ie jemahls ge&#x017F;pielet wa&#x0364;re.</note><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25/0053] Horatius von der Dicht Kunſt. Jſt immer voll Verdruß, bedroht und ſtraft die Jugend, Und ſetzt ſein eigen Werck zur Regel aller Tugend. Der Jahre Wachsthum bringt uns Staͤrcke Muth u. Krafft, Und wenn das Alter kommt, wird alles hingerafft. Drum laß den Juͤngling nie des Greiſen Rolle machen, Kein Greis ſey Knaben gleich. Man muß in allen Sachen, Auf das, was ſich geziemt, und auf den Wohlſtand ſehn. Was ſich nicht ſpielen laͤſt, ſo wie es iſt geſchehn, Davon erzehlt man bloß die Nachricht auf den Buͤhnen. Doch, was das Ohr nur hoͤrt, ſo kraͤfftig es geſchienen, Dringt lange nicht ſo tief in die Gemuͤther ein, Als was man ſelber ſieht. Wiewohl was Dinge ſeyn, Die man nicht zeigen mag, die darf das Volck nicht ſehen: Man traͤgt ſie muͤndlich vor, als waͤren ſie geſchehen. Medea darf den Mord an ihrer Leibes-Frucht Nicht oͤffentlich begehn. Des Atreus Eiferſucht, Giebt dem Thyeſtes zwar, das Fleiſch gekochter Knaben, Doch darf man Topf und Heerd nicht ſelbſt geſehen haben, Wo ſie geſotten ſind. Verwandelt Progne ſich, Wird Cadmus eine Schlang; alsdann bediene dich Der Freyheit nimmermehr, dergleichen ſehn zu laſſen: Jch glaub es warlich nicht, und werd es ewig haſſen. Ein 237 243 247 237 ſie weichlich und wolluͤſtig von Natur ſind. Wenn alſo ein Todſchlag vorgeht, ſo wird er nur erzehlt, als wenn er hinter den Scenen vorgegangen waͤre. Die En- gellaͤnder und wir Deutſchen haben dergleichen blutige Dinge gern: wenige Perſo- nen ausgenommen, die kein Blut ſehen koͤnnen. 243 Medea. Wir haben oben gehoͤrt, daß ſie ihre beyde Kinder ermordet habe. Wenn nun ein Poet ein Trauerſpiel davon machte, darf er ſie dieſe ſchaͤndliche Mordthat nicht vor den Augen der Zuſchauer begehen laſſen. Seneca hat es in- deſſen in ſeiner Tragoͤdie doch gethan, und alſo Horatii Regel uͤberſchritten: der aber, wie leicht erhellet, nicht alle, ſondern nur die grauſamſten Mordthaten auf der Schaubuͤhne vor unanſtaͤndig erklaͤret; wie denn alle drey griechiſche Tragoͤ- dienſchreiber ſich nicht gaͤntzlich der blutigen Handlungen enthalten haben. 247 Progne ſoll ſich in eine Schwalbe, wie Philomele in eine Nachtigall, Cadmus aber in eine Schlange verwandelt haben. Jn der Fabel iſt dieß angenehm zu leſen, aber es wird laͤcherlich, ja unglaublich, wenn man es ſichtbar vorſtellen wollte. Daher kan man urtheilen, was von der Verwandlung eines Mannes in einen Hund zu halten ſey, die uns gleichwohl in einer gewiſſen neuen Comoͤdie auf der Schaubuͤhne haͤtte gezeiget werden ſollen, wenn ſie jemahls geſpielet waͤre. B 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/53
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/53>, abgerufen am 28.03.2024.