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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Sendschreiben.

Und wie sich Hand und Haupt, bevor er sie berühret,
Jn Lorber-Aeste kehrt, in Zweig und Blatt verliehret?
Hat sie nicht seinen Berg, der klugen Schwestern Sitz,
So wohl bekannt gemacht, als aller Dichter Witz?
Und braucht ihr Wesen nicht sowohl des Himmels Gaben,
Als Dicht-Kunst und Music dieselben nöthig haben?
Fürwahr es ist nicht recht, daß man sie nachgesetzt,
Und sie der Musen Huld nicht gleichfalls werth geschätzt.
Drum wird man künftig hin dich Wernerin, erwehlen,
Und vor die Mahler-Kunst als zehnte Muse zehlen.

Du bist der Ehre werth, weil du die Erste bist,
Dadurch der Männer-Zunft der Preis entzogen ist,
Der Preiß in deiner Kunst. Man ehret zwar mit Rechte,
Den ungemeinen Werth am weiblichen Geschlechte.
Sie haben Geist und Witz, Verstand, Belesenheit,
Kunst, Sprachen, Wissenschafft, ja Muth und Tapferkeit,
Und noch weit mehr gezeigt. Wird Sappho nicht gepriesen?
Wie hat Theano sich vor grauer Zeit gewiesen?
Wer kennt Aspasien und ihre Weisheit nicht,
Von welcher Griechenland mit solchem Ruhme spricht?
Wer will Cornelien, der Mutter jener Grachen,
Jn dem gepriesnen Rom ihr Lob zu Schanden machen?
Wo bleibt die Scuderey, die edle Schurmannin,
Die kluge Dacier und Preußens Möllerin,
Und hundert andre mehr, die wir noch lebend ehren?
Allein wo wird ein Mensch von diesen Frauen hören,
Daß sie den höchsten Grad in ihrer Kunst erreicht,
Und daß der Männer Hand vor ihren Künsten weicht?
So hoch sie es gebracht, in allem was wir lesen,
So ist es freylich wohl, vor Weiber, viel gewesen;
Vor Männer aber nicht. Fürwahr, Anacreon
Trägt vor der Sappho doch den Lorber-Krantz davon.
Und so gehts überall. Nur du und deine Künste
Entziehn den Meistern selbst die herrlichsten Gewinste.
Ach dencke selber nach, ist dieses nicht zu viel?
Auf! stecke deiner Kunst bescheidentlich ein Ziel;
Und sey die erste nicht, die, eh man es geglaubet,
Dem männlichen Geschlecht das Vorzugs-Recht geraubet.
Wiewohl du fährest fort und strebst dem besten nach,
Und denckest nicht so wohl an unsrer Meister Schmach,
Als an den Grad der Kunst, den sie erreichen sollten,
Dafern sie deine Hand zurücke lassen wollten.
Wie herrlich schützest du des Vaterlandes Ruhm?
Denn die Erfindungs-Krafft ist auch dein Eigenthum.
Ein
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Von poetiſchen Sendſchreiben.

Und wie ſich Hand und Haupt, bevor er ſie beruͤhret,
Jn Lorber-Aeſte kehrt, in Zweig und Blatt verliehret?
Hat ſie nicht ſeinen Berg, der klugen Schweſtern Sitz,
So wohl bekannt gemacht, als aller Dichter Witz?
Und braucht ihr Weſen nicht ſowohl des Himmels Gaben,
Als Dicht-Kunſt und Muſic dieſelben noͤthig haben?
Fuͤrwahr es iſt nicht recht, daß man ſie nachgeſetzt,
Und ſie der Muſen Huld nicht gleichfalls werth geſchaͤtzt.
Drum wird man kuͤnftig hin dich Wernerin, erwehlen,
Und vor die Mahler-Kunſt als zehnte Muſe zehlen.

Du biſt der Ehre werth, weil du die Erſte biſt,
Dadurch der Maͤnner-Zunft der Preis entzogen iſt,
Der Preiß in deiner Kunſt. Man ehret zwar mit Rechte,
Den ungemeinen Werth am weiblichen Geſchlechte.
Sie haben Geiſt und Witz, Verſtand, Beleſenheit,
Kunſt, Sprachen, Wiſſenſchafft, ja Muth und Tapferkeit,
Und noch weit mehr gezeigt. Wird Sappho nicht geprieſen?
Wie hat Theano ſich vor grauer Zeit gewieſen?
Wer kennt Aſpaſien und ihre Weisheit nicht,
Von welcher Griechenland mit ſolchem Ruhme ſpricht?
Wer will Cornelien, der Mutter jener Grachen,
Jn dem geprieſnen Rom ihr Lob zu Schanden machen?
Wo bleibt die Scuderey, die edle Schurmannin,
Die kluge Dacier und Preußens Moͤllerin,
Und hundert andre mehr, die wir noch lebend ehren?
Allein wo wird ein Menſch von dieſen Frauen hoͤren,
Daß ſie den hoͤchſten Grad in ihrer Kunſt erreicht,
Und daß der Maͤnner Hand vor ihren Kuͤnſten weicht?
So hoch ſie es gebracht, in allem was wir leſen,
So iſt es freylich wohl, vor Weiber, viel geweſen;
Vor Maͤnner aber nicht. Fuͤrwahr, Anacreon
Traͤgt vor der Sappho doch den Lorber-Krantz davon.
Und ſo gehts uͤberall. Nur du und deine Kuͤnſte
Entziehn den Meiſtern ſelbſt die herrlichſten Gewinſte.
Ach dencke ſelber nach, iſt dieſes nicht zu viel?
Auf! ſtecke deiner Kunſt beſcheidentlich ein Ziel;
Und ſey die erſte nicht, die, eh man es geglaubet,
Dem maͤnnlichen Geſchlecht das Vorzugs-Recht geraubet.
Wiewohl du faͤhreſt fort und ſtrebſt dem beſten nach,
Und denckeſt nicht ſo wohl an unſrer Meiſter Schmach,
Als an den Grad der Kunſt, den ſie erreichen ſollten,
Dafern ſie deine Hand zuruͤcke laſſen wollten.
Wie herrlich ſchuͤtzeſt du des Vaterlandes Ruhm?
Denn die Erfindungs-Krafft iſt auch dein Eigenthum.
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[453/0481] Von poetiſchen Sendſchreiben. Und wie ſich Hand und Haupt, bevor er ſie beruͤhret, Jn Lorber-Aeſte kehrt, in Zweig und Blatt verliehret? Hat ſie nicht ſeinen Berg, der klugen Schweſtern Sitz, So wohl bekannt gemacht, als aller Dichter Witz? Und braucht ihr Weſen nicht ſowohl des Himmels Gaben, Als Dicht-Kunſt und Muſic dieſelben noͤthig haben? Fuͤrwahr es iſt nicht recht, daß man ſie nachgeſetzt, Und ſie der Muſen Huld nicht gleichfalls werth geſchaͤtzt. Drum wird man kuͤnftig hin dich Wernerin, erwehlen, Und vor die Mahler-Kunſt als zehnte Muſe zehlen. Du biſt der Ehre werth, weil du die Erſte biſt, Dadurch der Maͤnner-Zunft der Preis entzogen iſt, Der Preiß in deiner Kunſt. Man ehret zwar mit Rechte, Den ungemeinen Werth am weiblichen Geſchlechte. Sie haben Geiſt und Witz, Verſtand, Beleſenheit, Kunſt, Sprachen, Wiſſenſchafft, ja Muth und Tapferkeit, Und noch weit mehr gezeigt. Wird Sappho nicht geprieſen? Wie hat Theano ſich vor grauer Zeit gewieſen? Wer kennt Aſpaſien und ihre Weisheit nicht, Von welcher Griechenland mit ſolchem Ruhme ſpricht? Wer will Cornelien, der Mutter jener Grachen, Jn dem geprieſnen Rom ihr Lob zu Schanden machen? Wo bleibt die Scuderey, die edle Schurmannin, Die kluge Dacier und Preußens Moͤllerin, Und hundert andre mehr, die wir noch lebend ehren? Allein wo wird ein Menſch von dieſen Frauen hoͤren, Daß ſie den hoͤchſten Grad in ihrer Kunſt erreicht, Und daß der Maͤnner Hand vor ihren Kuͤnſten weicht? So hoch ſie es gebracht, in allem was wir leſen, So iſt es freylich wohl, vor Weiber, viel geweſen; Vor Maͤnner aber nicht. Fuͤrwahr, Anacreon Traͤgt vor der Sappho doch den Lorber-Krantz davon. Und ſo gehts uͤberall. Nur du und deine Kuͤnſte Entziehn den Meiſtern ſelbſt die herrlichſten Gewinſte. Ach dencke ſelber nach, iſt dieſes nicht zu viel? Auf! ſtecke deiner Kunſt beſcheidentlich ein Ziel; Und ſey die erſte nicht, die, eh man es geglaubet, Dem maͤnnlichen Geſchlecht das Vorzugs-Recht geraubet. Wiewohl du faͤhreſt fort und ſtrebſt dem beſten nach, Und denckeſt nicht ſo wohl an unſrer Meiſter Schmach, Als an den Grad der Kunſt, den ſie erreichen ſollten, Dafern ſie deine Hand zuruͤcke laſſen wollten. Wie herrlich ſchuͤtzeſt du des Vaterlandes Ruhm? Denn die Erfindungs-Krafft iſt auch dein Eigenthum. Ein F f 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/481>, abgerufen am 22.11.2024.