kirch an Friedrich den Weisen, und Günther an den König August die schärfsten Stellen mit einfliessen lassen. Die- ser letztere bedient sich einmahl der Worte:
Sieh Herr, wie wenig ich der Thoren schonen kan, Jch greife sie so gar vor deinen Augen an etc.
Und in des Boileau Briefe an den Frantzösischen König steht unter andern folgende Stelle:
Grand Roi, c' est mon defaut, je nesaurois flatter, Je ne sai point au Ciel placer un ridicule. D'un Nain faire un Atlas, ou d' un Lache un Hercule.
Die Art von Briefen nun läßt sich bey allerley Gelegen- heiten brauchen: Denn wo findet man nicht Anlaß, über die Sitten der Menschen seine Gedancken auszuschütten? Wenn auch solches nur mit der gehörigen Behutsamkeit, und Bescheidenheit gegen den, an welchen man schreibt, geschieht; so hat ein jeder solche Briefe lieber, als leere Um- schweife von unendlichen Wünschen oder Wortgeprängen, die in der That nichts heißen.
Fraget man überhaupt nach den äusserlichen Eigen- schafften eines solchen Briefes; so ist dieses zu mercken, daß er im Anfange denjenigen anreden muß, an den er ge- richtet ist: Es sey nun, daß es gleich in der ersten Zeile ge- schehe, oder doch bald hernach komme. So fängt Neu- kirch z. E. einmahl an.
Mein König, zürne nicht, daß mich dein Glantz bewegt etc.
Dieses ist, so zu reden, das eigentliche Merckmahl eines Briefes von dieser Art; denn was ist ein Brief überhaupt anders, als eine geschriebene Anrede an einen Abwesenden? Jn der Mitte kan dieselbe zuweilen wiederholt werden; doch ohne grosse Titel, die nur die Zeilen füllen und nichts sagen. Großmächtigster Monarch, heißt nichts mehr als Kö- nig: und Durchlauchter Fürst und Herr, bedeutet nur eben so viel als: mein Printz, mein Herzog, oder schlecht weg, Herr. Doch wolte ich bey diesem letztern. Worte rathen, es nicht auf einen jeden Dorf-Edelmann zu ver- schwenden: geschweige denn, bey bürgerlichen Personen zu
brau-
E e 4
Von poetiſchen Sendſchreiben.
kirch an Friedrich den Weiſen, und Guͤnther an den Koͤnig Auguſt die ſchaͤrfſten Stellen mit einflieſſen laſſen. Die- ſer letztere bedient ſich einmahl der Worte:
Sieh Herr, wie wenig ich der Thoren ſchonen kan, Jch greife ſie ſo gar vor deinen Augen an ꝛc.
Und in des Boileau Briefe an den Frantzoͤſiſchen Koͤnig ſteht unter andern folgende Stelle:
Grand Roi, c’ eſt mon defaut, je neſaurois flatter, Je ne ſai point au Ciel placer un ridicule. D’un Nain faire un Atlas, ou d’ un Lache un Hercule.
Die Art von Briefen nun laͤßt ſich bey allerley Gelegen- heiten brauchen: Denn wo findet man nicht Anlaß, uͤber die Sitten der Menſchen ſeine Gedancken auszuſchuͤtten? Wenn auch ſolches nur mit der gehoͤrigen Behutſamkeit, und Beſcheidenheit gegen den, an welchen man ſchreibt, geſchieht; ſo hat ein jeder ſolche Briefe lieber, als leere Um- ſchweife von unendlichen Wuͤnſchen oder Wortgepraͤngen, die in der That nichts heißen.
Fraget man uͤberhaupt nach den aͤuſſerlichen Eigen- ſchafften eines ſolchen Briefes; ſo iſt dieſes zu mercken, daß er im Anfange denjenigen anreden muß, an den er ge- richtet iſt: Es ſey nun, daß es gleich in der erſten Zeile ge- ſchehe, oder doch bald hernach komme. So faͤngt Neu- kirch z. E. einmahl an.
Mein Koͤnig, zuͤrne nicht, daß mich dein Glantz bewegt ꝛc.
Dieſes iſt, ſo zu reden, das eigentliche Merckmahl eines Briefes von dieſer Art; denn was iſt ein Brief uͤberhaupt anders, als eine geſchriebene Anrede an einen Abweſenden? Jn der Mitte kan dieſelbe zuweilen wiederholt werden; doch ohne groſſe Titel, die nur die Zeilen fuͤllen und nichts ſagen. Großmaͤchtigſter Monarch, heißt nichts mehr als Koͤ- nig: und Durchlauchter Fuͤrſt und Herr, bedeutet nur eben ſo viel als: mein Printz, mein Herzog, oder ſchlecht weg, Herr. Doch wolte ich bey dieſem letztern. Worte rathen, es nicht auf einen jeden Dorf-Edelmann zu ver- ſchwenden: geſchweige denn, bey buͤrgerlichen Perſonen zu
brau-
E e 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0467"n="439"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Von poetiſchen Sendſchreiben.</hi></fw><lb/>
kirch an Friedrich den Weiſen, und Guͤnther an den Koͤnig<lb/>
Auguſt die ſchaͤrfſten Stellen mit einflieſſen laſſen. Die-<lb/>ſer letztere bedient ſich einmahl der Worte:</p><lb/><cit><quote>Sieh Herr, wie wenig ich der Thoren ſchonen kan,<lb/>
Jch greife ſie ſo gar vor deinen Augen an ꝛc.</quote></cit><lb/><p>Und in des Boileau Briefe an den Frantzoͤſiſchen Koͤnig<lb/>ſteht unter andern folgende Stelle:</p><lb/><cit><quote><hirendition="#aq">Grand Roi, c’ eſt mon defaut, je neſaurois flatter,<lb/>
Je ne ſai point au Ciel placer un ridicule.<lb/>
D’un Nain faire un Atlas, ou d’ un Lache un Hercule.</hi></quote></cit><lb/><p>Die Art von Briefen nun laͤßt ſich bey allerley Gelegen-<lb/>
heiten brauchen: Denn wo findet man nicht Anlaß, uͤber<lb/>
die Sitten der Menſchen ſeine Gedancken auszuſchuͤtten?<lb/>
Wenn auch ſolches nur mit der gehoͤrigen Behutſamkeit,<lb/>
und Beſcheidenheit gegen den, an welchen man ſchreibt,<lb/>
geſchieht; ſo hat ein jeder ſolche Briefe lieber, als leere Um-<lb/>ſchweife von unendlichen Wuͤnſchen oder Wortgepraͤngen,<lb/>
die in der That nichts heißen.</p><lb/><p>Fraget man uͤberhaupt nach den aͤuſſerlichen Eigen-<lb/>ſchafften eines ſolchen Briefes; ſo iſt dieſes zu mercken,<lb/>
daß er im Anfange denjenigen anreden muß, an den er ge-<lb/>
richtet iſt: Es ſey nun, daß es gleich in der erſten Zeile ge-<lb/>ſchehe, oder doch bald hernach komme. So faͤngt Neu-<lb/>
kirch z. E. einmahl an.</p><lb/><cit><quote>Mein Koͤnig, zuͤrne nicht, daß mich dein Glantz bewegt ꝛc.</quote></cit><lb/><p>Dieſes iſt, ſo zu reden, das eigentliche Merckmahl eines<lb/>
Briefes von dieſer Art; denn was iſt ein Brief uͤberhaupt<lb/>
anders, als eine geſchriebene Anrede an einen Abweſenden?<lb/>
Jn der Mitte kan dieſelbe zuweilen wiederholt werden; doch<lb/>
ohne groſſe Titel, die nur die Zeilen fuͤllen und nichts ſagen.<lb/><hirendition="#fr">Großmaͤchtigſter Monarch,</hi> heißt nichts mehr als <hirendition="#fr">Koͤ-<lb/>
nig:</hi> und <hirendition="#fr">Durchlauchter Fuͤrſt und Herr,</hi> bedeutet nur<lb/>
eben ſo viel als: <hirendition="#fr">mein Printz, mein Herzog,</hi> oder ſchlecht<lb/>
weg, <hirendition="#fr">Herr.</hi> Doch wolte ich bey dieſem letztern. Worte<lb/>
rathen, es nicht auf einen jeden Dorf-Edelmann zu ver-<lb/>ſchwenden: geſchweige denn, bey buͤrgerlichen Perſonen zu<lb/><fwplace="bottom"type="sig">E e 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">brau-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[439/0467]
Von poetiſchen Sendſchreiben.
kirch an Friedrich den Weiſen, und Guͤnther an den Koͤnig
Auguſt die ſchaͤrfſten Stellen mit einflieſſen laſſen. Die-
ſer letztere bedient ſich einmahl der Worte:
Sieh Herr, wie wenig ich der Thoren ſchonen kan,
Jch greife ſie ſo gar vor deinen Augen an ꝛc.
Und in des Boileau Briefe an den Frantzoͤſiſchen Koͤnig
ſteht unter andern folgende Stelle:
Grand Roi, c’ eſt mon defaut, je neſaurois flatter,
Je ne ſai point au Ciel placer un ridicule.
D’un Nain faire un Atlas, ou d’ un Lache un Hercule.
Die Art von Briefen nun laͤßt ſich bey allerley Gelegen-
heiten brauchen: Denn wo findet man nicht Anlaß, uͤber
die Sitten der Menſchen ſeine Gedancken auszuſchuͤtten?
Wenn auch ſolches nur mit der gehoͤrigen Behutſamkeit,
und Beſcheidenheit gegen den, an welchen man ſchreibt,
geſchieht; ſo hat ein jeder ſolche Briefe lieber, als leere Um-
ſchweife von unendlichen Wuͤnſchen oder Wortgepraͤngen,
die in der That nichts heißen.
Fraget man uͤberhaupt nach den aͤuſſerlichen Eigen-
ſchafften eines ſolchen Briefes; ſo iſt dieſes zu mercken,
daß er im Anfange denjenigen anreden muß, an den er ge-
richtet iſt: Es ſey nun, daß es gleich in der erſten Zeile ge-
ſchehe, oder doch bald hernach komme. So faͤngt Neu-
kirch z. E. einmahl an.
Mein Koͤnig, zuͤrne nicht, daß mich dein Glantz bewegt ꝛc.
Dieſes iſt, ſo zu reden, das eigentliche Merckmahl eines
Briefes von dieſer Art; denn was iſt ein Brief uͤberhaupt
anders, als eine geſchriebene Anrede an einen Abweſenden?
Jn der Mitte kan dieſelbe zuweilen wiederholt werden; doch
ohne groſſe Titel, die nur die Zeilen fuͤllen und nichts ſagen.
Großmaͤchtigſter Monarch, heißt nichts mehr als Koͤ-
nig: und Durchlauchter Fuͤrſt und Herr, bedeutet nur
eben ſo viel als: mein Printz, mein Herzog, oder ſchlecht
weg, Herr. Doch wolte ich bey dieſem letztern. Worte
rathen, es nicht auf einen jeden Dorf-Edelmann zu ver-
ſchwenden: geſchweige denn, bey buͤrgerlichen Perſonen zu
brau-
E e 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/467>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.