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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst.

Was stört mich denn die Scham, daß ich die Kunst nicht lerne?
Wo Lust und Anmuth herrscht, da schreibt man nicht betrübt,
115Hingegen wo Thyest ein blutig Gastmahl giebt,

Da wird dein Trauerspiel sehr wiedersinnisch klingen,
Dafern dein matter Reim es niedrig wird besingen.
Nicht jede Schreibart kan auf jeder Stelle stehn,
Zuweilen darf sich auch des Lustspiels Thon erhöhn,
120Wenn Chremes zürnt und dreut, im Herzen Galle kochet,

Und bey geschwollner Brust mit frechen Worten pochet.
Jm Klagen senckt sich auch das Trauerspiel mit Recht,
Darum spricht Telephus und Peleus platt und schlecht
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diese Charactere beobachtet. Opitz hat nicht viel Nachfolger gefunden, die so wie
er in die Fußtapfen der Alten getreten. Man macht Helden-Gedichte in elegischen,
und verliebte Klagen in heroischen Verßen. Man macht Lob-Gedichte in der ge-
meinen Satirischen Schreibart, und die Satire wird gar in der Sprache des
Pöbels abgefasset.
114 Betrübt. Jn tragischen Verßen soll man nicht von comischen Sachen
reden, heißt es eigentlich. Die Comödie aber hat die lächerlichen Thorheiten der
Bürger vor sich, und fordert also eine ungekünstelte natürliche Art des Ausdruckes.
Die Tragödie hergegen beschreibt die unglücklichen Schicksale hoher Personen, und
muß also in erhabener und prächtiger Schreibart gemacht werden. Wer dieses
vermischt, verräth seine Unwissenheit.
115 Thyest. Ennius hatte davon ein Trauerspiel gemacht. Es hatte ihm
Atreus seine eigene Kinder gekocht und zu Essen vorgesetzt, die er auch unwissend
verzehrete. Diese grausame Begebenheit vertritt die Stelle aller andern Tragischen
Fabeln, und zeigt, wie ungereimt es seyn würde, von dergleichen schrecklichen
Dingen eine niederträchtige Schreibart zu gebrauchen.
118 Nicht jede Schreibart. Diese Regel Horatii ist von grosser Wichtigkeit,
und erfordert viel Verstand und Beurtheilungs-Krafft bey einem Scribenten:
daher denn vielfältig dawieder verstossen wird.
119 Des Lustspiels Thon erhöhn. Die Natur gewisser Affecten bringt hoch-
trabende Redensarten, und einen verwegenen Ausdruck nach dem andern hervor.
Z. E. der Zorn, davon Chremes in Terentii Comödien ein Beyspiel giebt. Soll
nun ein Zorniger auch in der Comödie natürlich sprechen, so muß man ihn tragisch,
das ist stoltz und trotzig reden lassen. Dieß ist eine Ausnahme von der obigen
Regel.
122 Jm Klagen senckt sich. Die Natur der Traurigkeit erfordert eine niedrige
und gemeine Art der Ausdrückungen. Telephus und Peleus, sind ein paar Tragö-
dien gewesen die Euripides gemacht, und worinn er diese beyde vertriebene Prinzen
in Bettler-Habite gantz kläglich redend eingeführet. Sie sind beyde nicht mehr
verhanden.
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Horatius von der Dicht-Kunſt.

Was ſtoͤrt mich denn die Scham, daß ich die Kunſt nicht lerne?
Wo Luſt und Anmuth herrſcht, da ſchreibt man nicht betruͤbt,
115Hingegen wo Thyeſt ein blutig Gaſtmahl giebt,

Da wird dein Trauerſpiel ſehr wiederſinniſch klingen,
Dafern dein matter Reim es niedrig wird beſingen.
Nicht jede Schreibart kan auf jeder Stelle ſtehn,
Zuweilen darf ſich auch des Luſtſpiels Thon erhoͤhn,
120Wenn Chremes zuͤrnt und dreut, im Herzen Galle kochet,

Und bey geſchwollner Bruſt mit frechen Worten pochet.
Jm Klagen ſenckt ſich auch das Trauerſpiel mit Recht,
Darum ſpricht Telephus und Peleus platt und ſchlecht
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Ohn
dieſe Charactere beobachtet. Opitz hat nicht viel Nachfolger gefunden, die ſo wie
er in die Fußtapfen der Alten getreten. Man macht Helden-Gedichte in elegiſchen,
und verliebte Klagen in heroiſchen Verßen. Man macht Lob-Gedichte in der ge-
meinen Satiriſchen Schreibart, und die Satire wird gar in der Sprache des
Poͤbels abgefaſſet.
114 Betrübt. Jn tragiſchen Verßen ſoll man nicht von comiſchen Sachen
reden, heißt es eigentlich. Die Comoͤdie aber hat die laͤcherlichen Thorheiten der
Buͤrger vor ſich, und fordert alſo eine ungekuͤnſtelte natuͤrliche Art des Ausdruckes.
Die Tragoͤdie hergegen beſchreibt die ungluͤcklichen Schickſale hoher Perſonen, und
muß alſo in erhabener und praͤchtiger Schreibart gemacht werden. Wer dieſes
vermiſcht, verraͤth ſeine Unwiſſenheit.
115 Thyeſt. Ennius hatte davon ein Trauerſpiel gemacht. Es hatte ihm
Atreus ſeine eigene Kinder gekocht und zu Eſſen vorgeſetzt, die er auch unwiſſend
verzehrete. Dieſe grauſame Begebenheit vertritt die Stelle aller andern Tragiſchen
Fabeln, und zeigt, wie ungereimt es ſeyn wuͤrde, von dergleichen ſchrecklichen
Dingen eine niedertraͤchtige Schreibart zu gebrauchen.
118 Nicht jede Schreibart. Dieſe Regel Horatii iſt von groſſer Wichtigkeit,
und erfordert viel Verſtand und Beurtheilungs-Krafft bey einem Scribenten:
daher denn vielfaͤltig dawieder verſtoſſen wird.
119 Des Luſtſpiels Thon erhoͤhn. Die Natur gewiſſer Affecten bringt hoch-
trabende Redensarten, und einen verwegenen Ausdruck nach dem andern hervor.
Z. E. der Zorn, davon Chremes in Terentii Comoͤdien ein Beyſpiel giebt. Soll
nun ein Zorniger auch in der Comoͤdie natuͤrlich ſprechen, ſo muß man ihn tragiſch,
das iſt ſtoltz und trotzig reden laſſen. Dieß iſt eine Ausnahme von der obigen
Regel.
122 Jm Klagen ſenckt ſich. Die Natur der Traurigkeit erfordert eine niedrige
und gemeine Art der Ausdruͤckungen. Telephus und Peleus, ſind ein paar Tragoͤ-
dien geweſen die Euripides gemacht, und worinn er dieſe beyde vertriebene Prinzen
in Bettler-Habite gantz klaͤglich redend eingefuͤhret. Sie ſind beyde nicht mehr
verhanden.
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[17/0045] Horatius von der Dicht-Kunſt. Was ſtoͤrt mich denn die Scham, daß ich die Kunſt nicht lerne? Wo Luſt und Anmuth herrſcht, da ſchreibt man nicht betruͤbt, Hingegen wo Thyeſt ein blutig Gaſtmahl giebt, Da wird dein Trauerſpiel ſehr wiederſinniſch klingen, Dafern dein matter Reim es niedrig wird beſingen. Nicht jede Schreibart kan auf jeder Stelle ſtehn, Zuweilen darf ſich auch des Luſtſpiels Thon erhoͤhn, Wenn Chremes zuͤrnt und dreut, im Herzen Galle kochet, Und bey geſchwollner Bruſt mit frechen Worten pochet. Jm Klagen ſenckt ſich auch das Trauerſpiel mit Recht, Darum ſpricht Telephus und Peleus platt und ſchlecht Ohn 112 114 115 118 119 122 112 dieſe Charactere beobachtet. Opitz hat nicht viel Nachfolger gefunden, die ſo wie er in die Fußtapfen der Alten getreten. Man macht Helden-Gedichte in elegiſchen, und verliebte Klagen in heroiſchen Verßen. Man macht Lob-Gedichte in der ge- meinen Satiriſchen Schreibart, und die Satire wird gar in der Sprache des Poͤbels abgefaſſet. 114 Betrübt. Jn tragiſchen Verßen ſoll man nicht von comiſchen Sachen reden, heißt es eigentlich. Die Comoͤdie aber hat die laͤcherlichen Thorheiten der Buͤrger vor ſich, und fordert alſo eine ungekuͤnſtelte natuͤrliche Art des Ausdruckes. Die Tragoͤdie hergegen beſchreibt die ungluͤcklichen Schickſale hoher Perſonen, und muß alſo in erhabener und praͤchtiger Schreibart gemacht werden. Wer dieſes vermiſcht, verraͤth ſeine Unwiſſenheit. 115 Thyeſt. Ennius hatte davon ein Trauerſpiel gemacht. Es hatte ihm Atreus ſeine eigene Kinder gekocht und zu Eſſen vorgeſetzt, die er auch unwiſſend verzehrete. Dieſe grauſame Begebenheit vertritt die Stelle aller andern Tragiſchen Fabeln, und zeigt, wie ungereimt es ſeyn wuͤrde, von dergleichen ſchrecklichen Dingen eine niedertraͤchtige Schreibart zu gebrauchen. 118 Nicht jede Schreibart. Dieſe Regel Horatii iſt von groſſer Wichtigkeit, und erfordert viel Verſtand und Beurtheilungs-Krafft bey einem Scribenten: daher denn vielfaͤltig dawieder verſtoſſen wird. 119 Des Luſtſpiels Thon erhoͤhn. Die Natur gewiſſer Affecten bringt hoch- trabende Redensarten, und einen verwegenen Ausdruck nach dem andern hervor. Z. E. der Zorn, davon Chremes in Terentii Comoͤdien ein Beyſpiel giebt. Soll nun ein Zorniger auch in der Comoͤdie natuͤrlich ſprechen, ſo muß man ihn tragiſch, das iſt ſtoltz und trotzig reden laſſen. Dieß iſt eine Ausnahme von der obigen Regel. 122 Jm Klagen ſenckt ſich. Die Natur der Traurigkeit erfordert eine niedrige und gemeine Art der Ausdruͤckungen. Telephus und Peleus, ſind ein paar Tragoͤ- dien geweſen die Euripides gemacht, und worinn er dieſe beyde vertriebene Prinzen in Bettler-Habite gantz klaͤglich redend eingefuͤhret. Sie ſind beyde nicht mehr verhanden. B B

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/45>, abgerufen am 20.04.2024.