Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Was 103 Archilochus erfand. Nicht als wenn vor ihm keine Jamben wären gemacht worden: denn nach Aristotelis Bericht hat schon Homerus auf einen ge- wissen Margites eine Satire gemacht, die fast in lauter jambischen Verßen be- standen. Sondern weil er sich sonderbar damit hervor gethan. 105 Sehr geschickt. Weil es nehmlich im Griechischen und Lateinischen, so- wohl als im Deutschen, überaus leicht fiel, jambische Verße zu machen, und weil dieses Sylbenmaaß von der natürlichen prosaischen Art nicht sehr unterschieden ist. 106 Geräusch. Ohne Zweifel dasjenige, welches in den Schauplätzen ent- stund, wenn viel Zuschauer verhanden waren. Weil nun die ungereimten jam- bischen Verße fast wie die ungebundne Rede klungen, und doch eine gewisse Anmuth hatten: so hörte das Volck desto aufmercksamer zu. Bey uns machens die Reime, daß unsre poetischen Schauspiele von der Prosa unterschieden sind: aber vielleicht nur desto angenehmer klingen, weil man die Reime gern höret. 110 Der Musen. Jm Grund-Texte steht nur eine Muse, und soll vielleicht Calliope seyn: die ihrem Sohne Orpheus nach der XII. Ode des I. B. Horätii, zu- erst singen gelehret. Wiewohl es gewiß ist, daß lange vor dem Orpheus Lieder ge- sungen worden. 110 Oden. Dieß ist der allgemeine Nahme aller Lieder, und begreift vielerley Gattungen unter sich. Hymnos, Encomia, Threnos und Bacchica. Die ersten waren geistlich, und den Göttern zu Ehren gemacht; Die andern weltlich, und hielten das Lob der Könige, Helden und Sieger bey den Griechischen Spielen, in sich; Die dritten verliebt, und beklagten die unglücklichen Schicksale der Poeten in der Liebe; Die vierdten lustig, und wurden beym Truncke gebraucht. Die Hymni hiessen auch Paeanes, die Encomia wurden auch Scolia genennet; die Threnos nennte man auch Melos, und die Bacchica hiessen auch wohl Dithy- rambi, darinnen offt was satirisches vorkam. Wiewohl man diese Nahmen nicht immer so genau unterschieden hat. Man sehe Scaligers Poesie nach. 112 Jn jeder Art. Wer die verschiedenen Charactere, der Helden-Gedichte,
Elegien, Satiren, Trauerspiele, Lustspiele und Oden nicht zu beobachten weiß, der darf sich nicht rühmen daß er ein Poet ist. Horatz ist selbst so bescheiden, daß er sich solches nicht zuschreibet. Man kan leicht sehen wie wenige deutsche Poeten diese
Was 103 Archilochus erfand. Nicht als wenn vor ihm keine Jamben waͤren gemacht worden: denn nach Ariſtotelis Bericht hat ſchon Homerus auf einen ge- wiſſen Margites eine Satire gemacht, die faſt in lauter jambiſchen Verßen be- ſtanden. Sondern weil er ſich ſonderbar damit hervor gethan. 105 Sehr geſchickt. Weil es nehmlich im Griechiſchen und Lateiniſchen, ſo- wohl als im Deutſchen, uͤberaus leicht fiel, jambiſche Verße zu machen, und weil dieſes Sylbenmaaß von der natuͤrlichen proſaiſchen Art nicht ſehr unterſchieden iſt. 106 Geräuſch. Ohne Zweifel dasjenige, welches in den Schauplaͤtzen ent- ſtund, wenn viel Zuſchauer verhanden waren. Weil nun die ungereimten jam- biſchen Verße faſt wie die ungebundne Rede klungen, und doch eine gewiſſe Anmuth hatten: ſo hoͤrte das Volck deſto aufmerckſamer zu. Bey uns machens die Reime, daß unſre poetiſchen Schauſpiele von der Proſa unterſchieden ſind: aber vielleicht nur deſto angenehmer klingen, weil man die Reime gern hoͤret. 110 Der Muſen. Jm Grund-Texte ſteht nur eine Muſe, und ſoll vielleicht Calliope ſeyn: die ihrem Sohne Orpheus nach der XII. Ode des I. B. Horaͤtii, zu- erſt ſingen gelehret. Wiewohl es gewiß iſt, daß lange vor dem Orpheus Lieder ge- ſungen worden. 110 Oden. Dieß iſt der allgemeine Nahme aller Lieder, und begreift vielerley Gattungen unter ſich. Hymnos, Encomia, Threnos und Bacchica. Die erſten waren geiſtlich, und den Goͤttern zu Ehren gemacht; Die andern weltlich, und hielten das Lob der Koͤnige, Helden und Sieger bey den Griechiſchen Spielen, in ſich; Die dritten verliebt, und beklagten die ungluͤcklichen Schickſale der Poeten in der Liebe; Die vierdten luſtig, und wurden beym Truncke gebraucht. Die Hymni hieſſen auch Paeanes, die Encomia wurden auch Scolia genennet; die Threnos nennte man auch Melos, und die Bacchica hieſſen auch wohl Dithy- rambi, darinnen offt was ſatiriſches vorkam. Wiewohl man dieſe Nahmen nicht immer ſo genau unterſchieden hat. Man ſehe Scaligers Poeſie nach. 112 Jn jeder Art. Wer die verſchiedenen Charactere, der Helden-Gedichte,
Elegien, Satiren, Trauerſpiele, Luſtſpiele und Oden nicht zu beobachten weiß, der darf ſich nicht ruͤhmen daß er ein Poet iſt. Horatz iſt ſelbſt ſo beſcheiden, daß er ſich ſolches nicht zuſchreibet. Man kan leicht ſehen wie wenige deutſche Poeten dieſe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="4"> <l> <pb facs="#f0044" n="16"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Archilochus erfand das Jambiſche Gedicht,</l><lb/> <l>Darinnen trat das Luſt- und Trauer-Spiel ans Licht;<lb/><note place="left">105</note>Es iſt auch ſehr geſchickt Geſpraͤche drinn zu ſetzen,</l><lb/> <l>Bezwingt des Volcks Geraͤuſch und kan das Ohr ergetzen.</l><lb/> <l>Der Goͤtter hohes Lob, der Voͤlcker Alterthum,</l><lb/> <l>Beruͤhmter Helden Preis, der Kaͤmpfer Krantz und Ruhm,</l><lb/> <l>Und was ein Juͤngling thut, den Wein und Liebe zwingen,<lb/><note place="left">110</note>Befahl der Muſen Mund in Oden abzuſingen.</l><lb/> <l>Dafern ich nun davon nichts gruͤndliches verſteh,</l><lb/> <l>Und mich in jeder Art der Poeſie vergeh,</l><lb/> <l>Bin ich denn ein Poet? Jch bins nicht; das ſey ferne!<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Was</fw><lb/><note place="foot" n="103"><hi rendition="#fr">Archilochus erfand.</hi> Nicht als wenn vor ihm keine Jamben waͤren<lb/> gemacht worden: denn nach Ariſtotelis Bericht hat ſchon Homerus auf einen ge-<lb/> wiſſen Margites eine Satire gemacht, die faſt in lauter jambiſchen Verßen be-<lb/> ſtanden. Sondern weil er ſich ſonderbar damit hervor gethan.</note><lb/><note place="foot" n="105"><hi rendition="#fr">Sehr geſchickt.</hi> Weil es nehmlich im Griechiſchen und Lateiniſchen, ſo-<lb/> wohl als im Deutſchen, uͤberaus leicht fiel, jambiſche Verße zu machen, und weil<lb/> dieſes Sylbenmaaß von der natuͤrlichen proſaiſchen Art nicht ſehr unterſchieden iſt.</note><lb/><note place="foot" n="106"><hi rendition="#fr">Geräuſch.</hi> Ohne Zweifel dasjenige, welches in den Schauplaͤtzen ent-<lb/> ſtund, wenn viel Zuſchauer verhanden waren. Weil nun die ungereimten jam-<lb/> biſchen Verße faſt wie die ungebundne Rede klungen, und doch eine gewiſſe Anmuth<lb/> hatten: ſo hoͤrte das Volck deſto aufmerckſamer zu. Bey uns machens die Reime,<lb/> daß unſre poetiſchen Schauſpiele von der Proſa unterſchieden ſind: aber vielleicht<lb/> nur deſto angenehmer klingen, weil man die Reime gern hoͤret.</note><lb/><note place="foot" n="110"><hi rendition="#fr">Der Muſen.</hi> Jm Grund-Texte ſteht nur eine Muſe, und ſoll vielleicht<lb/> Calliope ſeyn: die ihrem Sohne Orpheus nach der <hi rendition="#aq">XII.</hi> Ode des <hi rendition="#aq">I.</hi> B. Horaͤtii, zu-<lb/> erſt ſingen gelehret. Wiewohl es gewiß iſt, daß lange vor dem Orpheus Lieder ge-<lb/> ſungen worden.</note><lb/><note place="foot" n="110"><hi rendition="#fr">Oden.</hi> Dieß iſt der allgemeine Nahme aller Lieder, und begreift vielerley<lb/> Gattungen unter ſich. <hi rendition="#aq">Hymnos, Encomia, Threnos</hi> und <hi rendition="#aq">Bacchica.</hi> Die<lb/> erſten waren geiſtlich, und den Goͤttern zu Ehren gemacht; Die andern weltlich,<lb/> und hielten das Lob der Koͤnige, Helden und Sieger bey den Griechiſchen Spielen, in<lb/> ſich; Die dritten verliebt, und beklagten die ungluͤcklichen Schickſale der Poeten<lb/> in der Liebe; Die vierdten luſtig, und wurden beym Truncke gebraucht. Die<lb/><hi rendition="#aq">Hymni</hi> hieſſen auch <hi rendition="#aq">Paeanes,</hi> die <hi rendition="#aq">Encomia</hi> wurden auch <hi rendition="#aq">Scolia</hi> genennet; die<lb/><hi rendition="#aq">Threnos</hi> nennte man auch <hi rendition="#aq">Melos,</hi> und die <hi rendition="#aq">Bacchica</hi> hieſſen auch wohl <hi rendition="#aq">Dithy-<lb/> rambi,</hi> darinnen offt was ſatiriſches vorkam. Wiewohl man dieſe Nahmen nicht<lb/> immer ſo genau unterſchieden hat. Man ſehe Scaligers Poeſie nach.</note><lb/><note xml:id="f05" next="#f06" place="foot" n="112"><hi rendition="#fr">Jn jeder Art.</hi> Wer die verſchiedenen Charactere, der Helden-Gedichte,<lb/> Elegien, Satiren, Trauerſpiele, Luſtſpiele und Oden nicht zu beobachten weiß,<lb/> der darf ſich nicht ruͤhmen daß er ein Poet iſt. Horatz iſt ſelbſt ſo beſcheiden, daß er<lb/> ſich ſolches nicht zuſchreibet. Man kan leicht ſehen wie wenige deutſche Poeten<lb/> <fw place="bottom" type="catch">dieſe</fw></note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [16/0044]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Archilochus erfand das Jambiſche Gedicht,
Darinnen trat das Luſt- und Trauer-Spiel ans Licht;
Es iſt auch ſehr geſchickt Geſpraͤche drinn zu ſetzen,
Bezwingt des Volcks Geraͤuſch und kan das Ohr ergetzen.
Der Goͤtter hohes Lob, der Voͤlcker Alterthum,
Beruͤhmter Helden Preis, der Kaͤmpfer Krantz und Ruhm,
Und was ein Juͤngling thut, den Wein und Liebe zwingen,
Befahl der Muſen Mund in Oden abzuſingen.
Dafern ich nun davon nichts gruͤndliches verſteh,
Und mich in jeder Art der Poeſie vergeh,
Bin ich denn ein Poet? Jch bins nicht; das ſey ferne!
Was
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106
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110
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103 Archilochus erfand. Nicht als wenn vor ihm keine Jamben waͤren
gemacht worden: denn nach Ariſtotelis Bericht hat ſchon Homerus auf einen ge-
wiſſen Margites eine Satire gemacht, die faſt in lauter jambiſchen Verßen be-
ſtanden. Sondern weil er ſich ſonderbar damit hervor gethan.
105 Sehr geſchickt. Weil es nehmlich im Griechiſchen und Lateiniſchen, ſo-
wohl als im Deutſchen, uͤberaus leicht fiel, jambiſche Verße zu machen, und weil
dieſes Sylbenmaaß von der natuͤrlichen proſaiſchen Art nicht ſehr unterſchieden iſt.
106 Geräuſch. Ohne Zweifel dasjenige, welches in den Schauplaͤtzen ent-
ſtund, wenn viel Zuſchauer verhanden waren. Weil nun die ungereimten jam-
biſchen Verße faſt wie die ungebundne Rede klungen, und doch eine gewiſſe Anmuth
hatten: ſo hoͤrte das Volck deſto aufmerckſamer zu. Bey uns machens die Reime,
daß unſre poetiſchen Schauſpiele von der Proſa unterſchieden ſind: aber vielleicht
nur deſto angenehmer klingen, weil man die Reime gern hoͤret.
110 Der Muſen. Jm Grund-Texte ſteht nur eine Muſe, und ſoll vielleicht
Calliope ſeyn: die ihrem Sohne Orpheus nach der XII. Ode des I. B. Horaͤtii, zu-
erſt ſingen gelehret. Wiewohl es gewiß iſt, daß lange vor dem Orpheus Lieder ge-
ſungen worden.
110 Oden. Dieß iſt der allgemeine Nahme aller Lieder, und begreift vielerley
Gattungen unter ſich. Hymnos, Encomia, Threnos und Bacchica. Die
erſten waren geiſtlich, und den Goͤttern zu Ehren gemacht; Die andern weltlich,
und hielten das Lob der Koͤnige, Helden und Sieger bey den Griechiſchen Spielen, in
ſich; Die dritten verliebt, und beklagten die ungluͤcklichen Schickſale der Poeten
in der Liebe; Die vierdten luſtig, und wurden beym Truncke gebraucht. Die
Hymni hieſſen auch Paeanes, die Encomia wurden auch Scolia genennet; die
Threnos nennte man auch Melos, und die Bacchica hieſſen auch wohl Dithy-
rambi, darinnen offt was ſatiriſches vorkam. Wiewohl man dieſe Nahmen nicht
immer ſo genau unterſchieden hat. Man ſehe Scaligers Poeſie nach.
112 Jn jeder Art. Wer die verſchiedenen Charactere, der Helden-Gedichte,
Elegien, Satiren, Trauerſpiele, Luſtſpiele und Oden nicht zu beobachten weiß,
der darf ſich nicht ruͤhmen daß er ein Poet iſt. Horatz iſt ſelbſt ſo beſcheiden, daß er
ſich ſolches nicht zuſchreibet. Man kan leicht ſehen wie wenige deutſche Poeten
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