Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Weil 33 Schlecht und einfach. Simplex et vnum. Das heißt, nicht gar zu bunt und kauderwelsch durch einander gemischt, als wenn man alle Theile seiner Klei- dung aus einer andern Farbe machen wollte. Diese natürliche Einfalt dünckt man- chem ein Fehler zu seyn; sie ist aber die gröste Kunst. Ein Helden-Gedichte beschreibt eine einzige Fabel: das ist schlecht und einfach, aber künstlicher als Ovidii Ver- wandlungen; worinn wohl etliche hundert Fabeln stehen. Eine Comödie vom Moliere hat nur eine einzige Fabel zum Jnhalte. Ein Stück aus Corneille und Racine ist gleichfals einfach. Jm Theatre Italien aber ist alles vielfach und kun- terbunt. Jenes ist regelmäßig, dieses unförmlich und heßlich. NB. Ein gutes Gedicht muß aus dem vollen geschnitten werden, wie ein gut Kleid; nicht aus mancherley bunten Lappen zusammen geflickt seyn, wie ein Harlekins-Rock. 39 Sehr vielfach vorzustellen. Das ist der Fehler unsrer poetischen Mahler. Sie mischen Himmel und Erden durch einander und kein Ding behält seine Stelle. Die Sterne sind Blumen des Himmels, und die Blumen Sterne der Erden. Die Sonne das Auge der Welt, und das Auge die Sonne des Angesichts u. s. w. Das heist Fische in den Wald, und das Wild in die See mahlen. 45 Und jedes Haar etc. Das heißt die Stümper verfallen auf Kleinigkeiten in ihren Beschreibungen. Sie mahlen uns alle Sonnenstäubchen, die sie in der Lufft haben fliegen sehen: Aber im Gantzen ist weder Art noch Geschicke. Einen Helden in der Tragödie läßt man seine Schöne in den künstlichsten Ausdrückungen, bis auf die Fäserchen so an ihren Spitzen sind, beschreiben; aber die gantze Fabel taugt nichts. 51 Jhr Dichter wagt etc. Mancher will ein Helden-Gedichte schreiben ehe
er noch weiß daß es Regeln in der Welt gibt, darnach es eingerichtet werden muß. Aristoteles und andre die davon geschrieben, sind ihm unbekannt; doch wagt er sich. Mancher will Comödien machen oder Tragödien schreiben, und weiß nichts von der innerlichen Einrichtung, den Schönheiten und Fehlern dieser Poesien. Daher läßt
Weil 33 Schlecht und einfach. Simplex et vnum. Das heißt, nicht gar zu bunt und kauderwelſch durch einander gemiſcht, als wenn man alle Theile ſeiner Klei- dung aus einer andern Farbe machen wollte. Dieſe natuͤrliche Einfalt duͤnckt man- chem ein Fehler zu ſeyn; ſie iſt aber die groͤſte Kunſt. Ein Helden-Gedichte beſchreibt eine einzige Fabel: das iſt ſchlecht und einfach, aber kuͤnſtlicher als Ovidii Ver- wandlungen; worinn wohl etliche hundert Fabeln ſtehen. Eine Comoͤdie vom Moliere hat nur eine einzige Fabel zum Jnhalte. Ein Stuͤck aus Corneille und Racine iſt gleichfals einfach. Jm Theatre Italien aber iſt alles vielfach und kun- terbunt. Jenes iſt regelmaͤßig, dieſes unfoͤrmlich und heßlich. NB. Ein gutes Gedicht muß aus dem vollen geſchnitten werden, wie ein gut Kleid; nicht aus mancherley bunten Lappen zuſammen geflickt ſeyn, wie ein Harlekins-Rock. 39 Sehr vielfach vorzuſtellen. Das iſt der Fehler unſrer poetiſchen Mahler. Sie miſchen Himmel und Erden durch einander und kein Ding behaͤlt ſeine Stelle. Die Sterne ſind Blumen des Himmels, und die Blumen Sterne der Erden. Die Sonne das Auge der Welt, und das Auge die Sonne des Angeſichts u. ſ. w. Das heiſt Fiſche in den Wald, und das Wild in die See mahlen. 45 Und jedes Haar ꝛc. Das heißt die Stuͤmper verfallen auf Kleinigkeiten in ihren Beſchreibungen. Sie mahlen uns alle Sonnenſtaͤubchen, die ſie in der Lufft haben fliegen ſehen: Aber im Gantzen iſt weder Art noch Geſchicke. Einen Helden in der Tragoͤdie laͤßt man ſeine Schoͤne in den kuͤnſtlichſten Ausdruͤckungen, bis auf die Faͤſerchen ſo an ihren Spitzen ſind, beſchreiben; aber die gantze Fabel taugt nichts. 51 Jhr Dichter wagt ꝛc. Mancher will ein Helden-Gedichte ſchreiben ehe
er noch weiß daß es Regeln in der Welt gibt, darnach es eingerichtet werden muß. Ariſtoteles und andre die davon geſchrieben, ſind ihm unbekannt; doch wagt er ſich. Mancher will Comoͤdien machen oder Tragoͤdien ſchreiben, und weiß nichts von der innerlichen Einrichtung, den Schoͤnheiten und Fehlern dieſer Poeſien. Daher laͤßt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l> <pb facs="#f0040" n="12"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Kurtz, alles was du ſchreibſt muß ſchlecht und einfach ſeyn.</l><lb/> <l>Doch Piſo, truͤgt uns offt des Guten falſcher Schein.<lb/><note place="left">35</note>Die Kuͤrtze macht mich ſchwer. Jch will natuͤrlich ſingen,</l><lb/> <l>Und leyre lahm und matt. Der ſtrebt nach groſſen Dingen,</l><lb/> <l>Und bleht ſich ſchwuͤlſtig auf. Wenn jener furchtſam ſchreibt,</l><lb/> <l>Geſchieht es, daß er gar am Staube kleben bleibt.</l><lb/> <l>Wer ſich bemuͤht, ein Ding ſehr vielfach vorzuſtellen,<lb/><note place="left">40</note>Mahlt leicht den Stoͤhr ins Holtz, den Eber in die Wellen.</l><lb/> <l>So bald iſt es geſchehn, auch wenn man ſich bemuͤht</l><lb/> <l>Von Fehlern frey zu ſeyn, daß ſich der Kiel verſieht.</l><lb/> <l>Man laͤßt ein Fechter-Spiel aus dichtem Ertzte gieſſen,</l><lb/> <l>Da hat der Stuͤmper nun die Naͤgel an den Fuͤſſen<lb/><note place="left">45</note>Und jedes Haar des Haupts ſehr kuͤnſtlich ausgedruͤckt;</l><lb/> <l>Die Bildung uͤberhaupt iſt plump und ungeſchickt,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Weil</fw><lb/><note place="foot" n="33"><hi rendition="#fr">Schlecht und einfach.</hi><hi rendition="#aq">Simplex et vnum.</hi> Das heißt, nicht gar zu bunt<lb/> und kauderwelſch durch einander gemiſcht, als wenn man alle Theile ſeiner Klei-<lb/> dung aus einer andern Farbe machen wollte. Dieſe natuͤrliche Einfalt duͤnckt man-<lb/> chem ein Fehler zu ſeyn; ſie iſt aber die groͤſte Kunſt. Ein Helden-Gedichte beſchreibt<lb/> eine einzige Fabel: das iſt ſchlecht und einfach, aber kuͤnſtlicher als Ovidii Ver-<lb/> wandlungen; worinn wohl etliche hundert Fabeln ſtehen. Eine Comoͤdie vom<lb/> Moliere hat nur eine einzige Fabel zum Jnhalte. Ein Stuͤck aus Corneille und<lb/> Racine iſt gleichfals einfach. Jm <hi rendition="#aq">Theatre Italien</hi> aber iſt alles vielfach und kun-<lb/> terbunt. Jenes iſt regelmaͤßig, dieſes unfoͤrmlich und heßlich. <hi rendition="#aq">NB.</hi> Ein gutes<lb/> Gedicht muß aus dem vollen geſchnitten werden, wie ein gut Kleid; nicht aus<lb/> mancherley bunten Lappen zuſammen geflickt ſeyn, wie ein Harlekins-Rock.</note><lb/><note place="foot" n="39"><hi rendition="#fr">Sehr vielfach vorzuſtellen.</hi> Das iſt der Fehler unſrer poetiſchen Mahler.<lb/> Sie miſchen Himmel und Erden durch einander und kein Ding behaͤlt ſeine Stelle.<lb/> Die Sterne ſind Blumen des Himmels, und die Blumen Sterne der Erden.<lb/> Die Sonne das Auge der Welt, und das Auge die Sonne des Angeſichts<lb/> u. ſ. w. Das heiſt Fiſche in den Wald, und das Wild in die See mahlen.</note><lb/><note place="foot" n="45"><hi rendition="#fr">Und jedes Haar ꝛc.</hi> Das heißt die Stuͤmper verfallen auf Kleinigkeiten<lb/> in ihren Beſchreibungen. Sie mahlen uns alle Sonnenſtaͤubchen, die ſie in der Lufft<lb/> haben fliegen ſehen: Aber im Gantzen iſt weder Art noch Geſchicke. Einen Helden<lb/> in der Tragoͤdie laͤßt man ſeine Schoͤne in den kuͤnſtlichſten Ausdruͤckungen, bis auf<lb/> die Faͤſerchen ſo an ihren Spitzen ſind, beſchreiben; aber die gantze Fabel taugt<lb/> nichts.</note><lb/><note xml:id="f01" next="#f02" place="foot" n="51"><hi rendition="#fr">Jhr Dichter wagt ꝛc.</hi> Mancher will ein Helden-Gedichte ſchreiben ehe<lb/> er noch weiß daß es Regeln in der Welt gibt, darnach es eingerichtet werden muß.<lb/> Ariſtoteles und andre die davon geſchrieben, ſind ihm unbekannt; doch wagt er ſich.<lb/> Mancher will Comoͤdien machen oder Tragoͤdien ſchreiben, und weiß nichts von der<lb/> innerlichen Einrichtung, den Schoͤnheiten und Fehlern dieſer Poeſien. Daher<lb/> <fw place="bottom" type="catch">laͤßt</fw></note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [12/0040]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Kurtz, alles was du ſchreibſt muß ſchlecht und einfach ſeyn.
Doch Piſo, truͤgt uns offt des Guten falſcher Schein.
Die Kuͤrtze macht mich ſchwer. Jch will natuͤrlich ſingen,
Und leyre lahm und matt. Der ſtrebt nach groſſen Dingen,
Und bleht ſich ſchwuͤlſtig auf. Wenn jener furchtſam ſchreibt,
Geſchieht es, daß er gar am Staube kleben bleibt.
Wer ſich bemuͤht, ein Ding ſehr vielfach vorzuſtellen,
Mahlt leicht den Stoͤhr ins Holtz, den Eber in die Wellen.
So bald iſt es geſchehn, auch wenn man ſich bemuͤht
Von Fehlern frey zu ſeyn, daß ſich der Kiel verſieht.
Man laͤßt ein Fechter-Spiel aus dichtem Ertzte gieſſen,
Da hat der Stuͤmper nun die Naͤgel an den Fuͤſſen
Und jedes Haar des Haupts ſehr kuͤnſtlich ausgedruͤckt;
Die Bildung uͤberhaupt iſt plump und ungeſchickt,
Weil
33
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45
51
33 Schlecht und einfach. Simplex et vnum. Das heißt, nicht gar zu bunt
und kauderwelſch durch einander gemiſcht, als wenn man alle Theile ſeiner Klei-
dung aus einer andern Farbe machen wollte. Dieſe natuͤrliche Einfalt duͤnckt man-
chem ein Fehler zu ſeyn; ſie iſt aber die groͤſte Kunſt. Ein Helden-Gedichte beſchreibt
eine einzige Fabel: das iſt ſchlecht und einfach, aber kuͤnſtlicher als Ovidii Ver-
wandlungen; worinn wohl etliche hundert Fabeln ſtehen. Eine Comoͤdie vom
Moliere hat nur eine einzige Fabel zum Jnhalte. Ein Stuͤck aus Corneille und
Racine iſt gleichfals einfach. Jm Theatre Italien aber iſt alles vielfach und kun-
terbunt. Jenes iſt regelmaͤßig, dieſes unfoͤrmlich und heßlich. NB. Ein gutes
Gedicht muß aus dem vollen geſchnitten werden, wie ein gut Kleid; nicht aus
mancherley bunten Lappen zuſammen geflickt ſeyn, wie ein Harlekins-Rock.
39 Sehr vielfach vorzuſtellen. Das iſt der Fehler unſrer poetiſchen Mahler.
Sie miſchen Himmel und Erden durch einander und kein Ding behaͤlt ſeine Stelle.
Die Sterne ſind Blumen des Himmels, und die Blumen Sterne der Erden.
Die Sonne das Auge der Welt, und das Auge die Sonne des Angeſichts
u. ſ. w. Das heiſt Fiſche in den Wald, und das Wild in die See mahlen.
45 Und jedes Haar ꝛc. Das heißt die Stuͤmper verfallen auf Kleinigkeiten
in ihren Beſchreibungen. Sie mahlen uns alle Sonnenſtaͤubchen, die ſie in der Lufft
haben fliegen ſehen: Aber im Gantzen iſt weder Art noch Geſchicke. Einen Helden
in der Tragoͤdie laͤßt man ſeine Schoͤne in den kuͤnſtlichſten Ausdruͤckungen, bis auf
die Faͤſerchen ſo an ihren Spitzen ſind, beſchreiben; aber die gantze Fabel taugt
nichts.
51 Jhr Dichter wagt ꝛc. Mancher will ein Helden-Gedichte ſchreiben ehe
er noch weiß daß es Regeln in der Welt gibt, darnach es eingerichtet werden muß.
Ariſtoteles und andre die davon geſchrieben, ſind ihm unbekannt; doch wagt er ſich.
Mancher will Comoͤdien machen oder Tragoͤdien ſchreiben, und weiß nichts von der
innerlichen Einrichtung, den Schoͤnheiten und Fehlern dieſer Poeſien. Daher
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