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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Oden, oder Liedern.
es von srepho ich kehre um, seinen Ursprung hat, und eine
Wiederkehr bedeutet. Wenn man es einen Vers heißt,
so ist es eben so viel; weil versus von vertere hergeleitet wird.
Jch weiß wohl, daß man andre Erklärungen von diesem
Lateinischen Worte giebt. Z. E. Weil man offt was än-
dern, verkehren oder versetzen müste, wenn man Verße macht.
Allein das sind Wortspiele. Besser ist es noch wenn man
sagt, das Umkehren im Schreiben am Ende einer Zeile, habe
diesen Lateinischen Nahmen zuwege gebracht. Denn wir
finden bey den Alten, daß sie auch die Zeilen prosaischer
Schrifften Verße genennet. Das kömmt aber auf eins
mit dem obigen hinaus. Die Homerischen Zeilen sind Ver-
ße, in diesem Verstande; und sind es auch nach meinem
Sinne, weil man alle Zeilen nach einer und derselben Melo-
die gesungen, und also dieselbe Gesangweise immer von neu-
em wieder angefangen.

Die Strophen einer Ode müssen also auch bey unsrer
heutigen künstlichen Music, eine gewisse Länge und Anzahl
der Zeilen beybehalten, wenn sie sich auf eine gewisse Melo-
die sollen singen lassen. So habens die Griechen und Rö-
mer gemacht, und so machens auch heute zu Tage alle Na-
tionen. Nur die Pindarischen Oden machen hier eine
Ausnahm. Die beyden ersten Strophen derselben, die wir
den Satz und Gegen-Satz nennen, sind zwar einander voll-
kommen ähnlich, aber die dritte schickt sich nicht mehr dazu.
Folglich schließe ich daraus, daß man dazu zweyerley Melo-
dien gesungen habe, eine zu anfangs zweymahl, die andere
zum Beschluß nur einmahl; welches gewiß so übel nicht
klingen kan. Exempel solcher Oden kan man in Opitzen und
andern Deutschen finden. Jch will aber ein eigenes hersetzen.

Strophe, oder Satz.
Edler Pindar! deine Lieder
Füllen noch den Helicon;
Und der süßen Seyten Thon
Schallt noch um den Pindus wieder.
Doch wer kan in tiefen Sträuchen.
Wo nur Pan, um Mitternacht,
Bey den wilden Faunen wacht,
Deinen hohen Geist erreichen!
Anti-
X 5

Von Oden, oder Liedern.
es von ςρεφω ich kehre um, ſeinen Urſprung hat, und eine
Wiederkehr bedeutet. Wenn man es einen Vers heißt,
ſo iſt es eben ſo viel; weil verſus von vertere hergeleitet wird.
Jch weiß wohl, daß man andre Erklaͤrungen von dieſem
Lateiniſchen Worte giebt. Z. E. Weil man offt was aͤn-
dern, verkehren oder verſetzen muͤſte, wenn man Verße macht.
Allein das ſind Wortſpiele. Beſſer iſt es noch wenn man
ſagt, das Umkehren im Schreiben am Ende einer Zeile, habe
dieſen Lateiniſchen Nahmen zuwege gebracht. Denn wir
finden bey den Alten, daß ſie auch die Zeilen proſaiſcher
Schrifften Verße genennet. Das koͤmmt aber auf eins
mit dem obigen hinaus. Die Homeriſchen Zeilen ſind Ver-
ße, in dieſem Verſtande; und ſind es auch nach meinem
Sinne, weil man alle Zeilen nach einer und derſelben Melo-
die geſungen, und alſo dieſelbe Geſangweiſe immer von neu-
em wieder angefangen.

Die Strophen einer Ode muͤſſen alſo auch bey unſrer
heutigen kuͤnſtlichen Muſic, eine gewiſſe Laͤnge und Anzahl
der Zeilen beybehalten, wenn ſie ſich auf eine gewiſſe Melo-
die ſollen ſingen laſſen. So habens die Griechen und Roͤ-
mer gemacht, und ſo machens auch heute zu Tage alle Na-
tionen. Nur die Pindariſchen Oden machen hier eine
Ausnahm. Die beyden erſten Strophen derſelben, die wir
den Satz und Gegen-Satz nennen, ſind zwar einander voll-
kommen aͤhnlich, aber die dritte ſchickt ſich nicht mehr dazu.
Folglich ſchließe ich daraus, daß man dazu zweyerley Melo-
dien geſungen habe, eine zu anfangs zweymahl, die andere
zum Beſchluß nur einmahl; welches gewiß ſo uͤbel nicht
klingen kan. Exempel ſolcher Oden kan man in Opitzen und
andern Deutſchen finden. Jch will aber ein eigenes herſetzen.

Strophe, oder Satz.
Edler Pindar! deine Lieder
Fuͤllen noch den Helicon;
Und der ſuͤßen Seyten Thon
Schallt noch um den Pindus wieder.
Doch wer kan in tiefen Straͤuchen.
Wo nur Pan, um Mitternacht,
Bey den wilden Faunen wacht,
Deinen hohen Geiſt erreichen!
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[329/0357] Von Oden, oder Liedern. es von ςρεφω ich kehre um, ſeinen Urſprung hat, und eine Wiederkehr bedeutet. Wenn man es einen Vers heißt, ſo iſt es eben ſo viel; weil verſus von vertere hergeleitet wird. Jch weiß wohl, daß man andre Erklaͤrungen von dieſem Lateiniſchen Worte giebt. Z. E. Weil man offt was aͤn- dern, verkehren oder verſetzen muͤſte, wenn man Verße macht. Allein das ſind Wortſpiele. Beſſer iſt es noch wenn man ſagt, das Umkehren im Schreiben am Ende einer Zeile, habe dieſen Lateiniſchen Nahmen zuwege gebracht. Denn wir finden bey den Alten, daß ſie auch die Zeilen proſaiſcher Schrifften Verße genennet. Das koͤmmt aber auf eins mit dem obigen hinaus. Die Homeriſchen Zeilen ſind Ver- ße, in dieſem Verſtande; und ſind es auch nach meinem Sinne, weil man alle Zeilen nach einer und derſelben Melo- die geſungen, und alſo dieſelbe Geſangweiſe immer von neu- em wieder angefangen. Die Strophen einer Ode muͤſſen alſo auch bey unſrer heutigen kuͤnſtlichen Muſic, eine gewiſſe Laͤnge und Anzahl der Zeilen beybehalten, wenn ſie ſich auf eine gewiſſe Melo- die ſollen ſingen laſſen. So habens die Griechen und Roͤ- mer gemacht, und ſo machens auch heute zu Tage alle Na- tionen. Nur die Pindariſchen Oden machen hier eine Ausnahm. Die beyden erſten Strophen derſelben, die wir den Satz und Gegen-Satz nennen, ſind zwar einander voll- kommen aͤhnlich, aber die dritte ſchickt ſich nicht mehr dazu. Folglich ſchließe ich daraus, daß man dazu zweyerley Melo- dien geſungen habe, eine zu anfangs zweymahl, die andere zum Beſchluß nur einmahl; welches gewiß ſo uͤbel nicht klingen kan. Exempel ſolcher Oden kan man in Opitzen und andern Deutſchen finden. Jch will aber ein eigenes herſetzen. Strophe, oder Satz. Edler Pindar! deine Lieder Fuͤllen noch den Helicon; Und der ſuͤßen Seyten Thon Schallt noch um den Pindus wieder. Doch wer kan in tiefen Straͤuchen. Wo nur Pan, um Mitternacht, Bey den wilden Faunen wacht, Deinen hohen Geiſt erreichen! Anti- X 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/357>, abgerufen am 07.05.2024.