Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Von dem Wohlklange der poetischen Schreibart. den, doch unsrer Sprache eben so natürlich als jene Gattung.D. Luther hat schon zu seiner Zeit den Lobgesang Ambrosii: Nun komm der Heyden Heyland, durchgehends in derglei- chen Art von Verßen übersetzt: welches zwar aus diesem Anfange nicht erhellet, aber in dem gantzen Liede unleugbar ist; wenn man nur etliche harte Stellen, der damahligen rauhen Mundart nachsehen will. Sogar im Ottfried findet man unzehliche trocheische Zeilen, ja zuweilen vier, fünf, sechs hintereinander: welches gewiß dem Poeten nicht ungefehr gekommen seyn kan; sondern um des Wohlklanges halber den er in dergleichen Verßen bemercket, mit Fleiß geschehen seyn mag. Es giebt gelehrte Männer die davor halten, diese Art des Sylbenmaaßes sey unsrer Muttersprache natürlicher, als die jambische. Sie beruffen sich auf die Stammwörter derselben, die gewiß entweder einsylbig sind, und also in allen Abänderungen mit einer langen Sylbe anfangen und mit ei- ner kurzen endigen; oder zwey Sylben haben, wie die Hauptwörter im Infinitivo, welche sie vor die Wurzeln an- sehen, und alsdann gleichfalls trocheisch klingen; als, leben, sterben, essen, trincken etc. Allein dem sey wie ihm wolle, soviel ist gewiß, daß trochäische Gedichte uns Deutschen nicht schwerer fallen können als jambische. Unsre Sprache hat fast eben soviel lange als kurze Sylben, und da sich diesel- ben hier sowohl als in der Jambischen Art, in gleicher Anzahl befinden müssen: So läuft es auf eins hinaus, was man vor Verße machen will. Das dactylische Sylbenmaaß ist das Dritte, so bey uns jam- U 3
Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart. den, doch unſrer Sprache eben ſo natuͤrlich als jene Gattung.D. Luther hat ſchon zu ſeiner Zeit den Lobgeſang Ambroſii: Nun komm der Heyden Heyland, durchgehends in derglei- chen Art von Verßen uͤberſetzt: welches zwar aus dieſem Anfange nicht erhellet, aber in dem gantzen Liede unleugbar iſt; wenn man nur etliche harte Stellen, der damahligen rauhen Mundart nachſehen will. Sogar im Ottfried findet man unzehliche trocheiſche Zeilen, ja zuweilen vier, fuͤnf, ſechs hintereinander: welches gewiß dem Poeten nicht ungefehr gekommen ſeyn kan; ſondern um des Wohlklanges halber den er in dergleichen Verßen bemercket, mit Fleiß geſchehen ſeyn mag. Es giebt gelehrte Maͤnner die davor halten, dieſe Art des Sylbenmaaßes ſey unſrer Mutterſprache natuͤrlicher, als die jambiſche. Sie beruffen ſich auf die Stammwoͤrter derſelben, die gewiß entweder einſylbig ſind, und alſo in allen Abaͤnderungen mit einer langen Sylbe anfangen und mit ei- ner kurzen endigen; oder zwey Sylben haben, wie die Hauptwoͤrter im Infinitivo, welche ſie vor die Wurzeln an- ſehen, und alsdann gleichfalls trocheiſch klingen; als, leben, ſterben, eſſen, trincken ꝛc. Allein dem ſey wie ihm wolle, ſoviel iſt gewiß, daß trochaͤiſche Gedichte uns Deutſchen nicht ſchwerer fallen koͤnnen als jambiſche. Unſre Sprache hat faſt eben ſoviel lange als kurze Sylben, und da ſich dieſel- ben hier ſowohl als in der Jambiſchen Art, in gleicher Anzahl befinden muͤſſen: So laͤuft es auf eins hinaus, was man vor Verße machen will. Das dactyliſche Sylbenmaaß iſt das Dritte, ſo bey uns jam- U 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0337" n="309"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.</hi></fw><lb/> den, doch unſrer Sprache eben ſo natuͤrlich als jene Gattung.<lb/> D. Luther hat ſchon zu ſeiner Zeit den Lobgeſang Ambroſii:<lb/> Nun komm der Heyden Heyland, durchgehends in derglei-<lb/> chen Art von Verßen uͤberſetzt: welches zwar aus dieſem<lb/> Anfange nicht erhellet, aber in dem gantzen Liede unleugbar<lb/> iſt; wenn man nur etliche harte Stellen, der damahligen<lb/> rauhen Mundart nachſehen will. Sogar im Ottfried findet<lb/> man unzehliche trocheiſche Zeilen, ja zuweilen vier, fuͤnf, ſechs<lb/> hintereinander: welches gewiß dem Poeten nicht ungefehr<lb/> gekommen ſeyn kan; ſondern um des Wohlklanges halber<lb/> den er in dergleichen Verßen bemercket, mit Fleiß geſchehen<lb/> ſeyn mag. Es giebt gelehrte Maͤnner die davor halten, dieſe<lb/> Art des Sylbenmaaßes ſey unſrer Mutterſprache natuͤrlicher,<lb/> als die jambiſche. Sie beruffen ſich auf die Stammwoͤrter<lb/> derſelben, die gewiß entweder einſylbig ſind, und alſo in allen<lb/> Abaͤnderungen mit einer langen Sylbe anfangen und mit ei-<lb/> ner kurzen endigen; oder zwey Sylben haben, wie die<lb/> Hauptwoͤrter im <hi rendition="#aq">Infinitivo,</hi> welche ſie vor die Wurzeln an-<lb/> ſehen, und alsdann gleichfalls trocheiſch klingen; als, leben,<lb/> ſterben, eſſen, trincken ꝛc. Allein dem ſey wie ihm wolle,<lb/> ſoviel iſt gewiß, daß trochaͤiſche Gedichte uns Deutſchen<lb/> nicht ſchwerer fallen koͤnnen als jambiſche. Unſre Sprache<lb/> hat faſt eben ſoviel lange als kurze Sylben, und da ſich dieſel-<lb/> ben hier ſowohl als in der Jambiſchen Art, in gleicher Anzahl<lb/> befinden muͤſſen: So laͤuft es auf eins hinaus, was man vor<lb/> Verße machen will.</p><lb/> <p>Das dactyliſche Sylbenmaaß iſt das Dritte, ſo bey uns<lb/> von Buchnern eingefuͤhret worden. Es erfordert, wie be-<lb/> kannt iſt, zweymahl ſoviel kurze als lange Sylben, und iſt<lb/> daher ſo leicht nicht als die beyden obigen Gattungen. Wir<lb/> finden auch daher vor Opitzen wohl nicht leicht eine gantz da-<lb/> ctyliſche Zeile in unſern alten Poeten; ja auch nach ſeiner Zeit<lb/> hat es wenigen damit gelingen wollen. Chriſtian Weiſe<lb/> und Guͤnther ſind offt ſehr gluͤcklich darinn geweſen, ſo daß<lb/> ihnen dieſe Art gantz ungezwungen und ohne Anſtoß gefloſſen.<lb/> Man hat ſie auch mehrentheils nur zu kleinen Arien von einer<lb/> oder zwey Strophen, ja wohl gar nur zu einzelnen Zeilen in<lb/> <fw place="bottom" type="sig">U 3</fw><fw place="bottom" type="catch">jam-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [309/0337]
Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.
den, doch unſrer Sprache eben ſo natuͤrlich als jene Gattung.
D. Luther hat ſchon zu ſeiner Zeit den Lobgeſang Ambroſii:
Nun komm der Heyden Heyland, durchgehends in derglei-
chen Art von Verßen uͤberſetzt: welches zwar aus dieſem
Anfange nicht erhellet, aber in dem gantzen Liede unleugbar
iſt; wenn man nur etliche harte Stellen, der damahligen
rauhen Mundart nachſehen will. Sogar im Ottfried findet
man unzehliche trocheiſche Zeilen, ja zuweilen vier, fuͤnf, ſechs
hintereinander: welches gewiß dem Poeten nicht ungefehr
gekommen ſeyn kan; ſondern um des Wohlklanges halber
den er in dergleichen Verßen bemercket, mit Fleiß geſchehen
ſeyn mag. Es giebt gelehrte Maͤnner die davor halten, dieſe
Art des Sylbenmaaßes ſey unſrer Mutterſprache natuͤrlicher,
als die jambiſche. Sie beruffen ſich auf die Stammwoͤrter
derſelben, die gewiß entweder einſylbig ſind, und alſo in allen
Abaͤnderungen mit einer langen Sylbe anfangen und mit ei-
ner kurzen endigen; oder zwey Sylben haben, wie die
Hauptwoͤrter im Infinitivo, welche ſie vor die Wurzeln an-
ſehen, und alsdann gleichfalls trocheiſch klingen; als, leben,
ſterben, eſſen, trincken ꝛc. Allein dem ſey wie ihm wolle,
ſoviel iſt gewiß, daß trochaͤiſche Gedichte uns Deutſchen
nicht ſchwerer fallen koͤnnen als jambiſche. Unſre Sprache
hat faſt eben ſoviel lange als kurze Sylben, und da ſich dieſel-
ben hier ſowohl als in der Jambiſchen Art, in gleicher Anzahl
befinden muͤſſen: So laͤuft es auf eins hinaus, was man vor
Verße machen will.
Das dactyliſche Sylbenmaaß iſt das Dritte, ſo bey uns
von Buchnern eingefuͤhret worden. Es erfordert, wie be-
kannt iſt, zweymahl ſoviel kurze als lange Sylben, und iſt
daher ſo leicht nicht als die beyden obigen Gattungen. Wir
finden auch daher vor Opitzen wohl nicht leicht eine gantz da-
ctyliſche Zeile in unſern alten Poeten; ja auch nach ſeiner Zeit
hat es wenigen damit gelingen wollen. Chriſtian Weiſe
und Guͤnther ſind offt ſehr gluͤcklich darinn geweſen, ſo daß
ihnen dieſe Art gantz ungezwungen und ohne Anſtoß gefloſſen.
Man hat ſie auch mehrentheils nur zu kleinen Arien von einer
oder zwey Strophen, ja wohl gar nur zu einzelnen Zeilen in
jam-
U 3
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |