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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Vorbericht.
Jahr alt war, Bürgermeister geworden; und an dessen
Söhne. Dieser Piso war ein Liebhaber und grosser
Kenner der Poesie, und sein ältester Sohn mochte selbst
viel Lust und Naturell dazu haben, wie aus dem Gedichte
sattsam erhellen wird. Diesen ansehnlichen Leuten, die
am Käyserlichen Hofe in grossen Gnaden stunden, wollte
Horatz eine Richtschnur in die Hand geben, darnach sie
sich in Beurtheilung aller Gedichte achten könnten; zu
gleicher Zeit aber den guten Geschmack des Hofes in gantz
Rom und Jtalien ausbreiten: nachdem er sich selbst, durch
unabläßigen Fleiß in Griechischen Büchern, sonderlich
durch Lesung der critischen Schrifften Aristotelis, Crito-
nis, Zenonis, Democriti und Neoptolemi von Paros, in
den Regeln desselben recht fest gesetzet hatte.

Jndessen muß niemand dencken, daß hier der Poet ein
vollständiges systematisches Werck habe machen wollen.
Die grösten Bewunderer desselben gestehen, daß es ohne
alle Ordnung geschrieben sey, und bey weitem nicht alle
Regeln in sich fasse, die zur Poesie gehören. Der Ver-
fasser hat sich an keinen Zwang einer philosophischen Ein-
richtung binden wollen; sondern als ein Poet nach Ver-
anlassung seiner Einfälle, bald diese bald jene Poetische
Regel in einer edlen Schreibart Vers-weise ausgedrückt.
Aber alles was er sagt ist höchstvernünftig, und man kan
sich von seinen Fürschrifften kein Haar-breit entfernen,
ohne zugleich von der Wahrheit, Natur und gesunden
Vernunft abzuweichen. Die unordentliche Vermischung
seiner Regeln dienet nur dazu, daß durch diese Mannig-
faltigkeit, und unvermuthete Abwechselung der Sachen,
der Leser destomehr belustiget und eingenommen werde.

Es ist diese Dichtkunst Horatii bereits von dem be-

rühm-
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Vorbericht.
Jahr alt war, Buͤrgermeiſter geworden; und an deſſen
Soͤhne. Dieſer Piſo war ein Liebhaber und groſſer
Kenner der Poeſie, und ſein aͤlteſter Sohn mochte ſelbſt
viel Luſt und Naturell dazu haben, wie aus dem Gedichte
ſattſam erhellen wird. Dieſen anſehnlichen Leuten, die
am Kaͤyſerlichen Hofe in groſſen Gnaden ſtunden, wollte
Horatz eine Richtſchnur in die Hand geben, darnach ſie
ſich in Beurtheilung aller Gedichte achten koͤnnten; zu
gleicher Zeit aber den guten Geſchmack des Hofes in gantz
Rom und Jtalien ausbreiten: nachdem er ſich ſelbſt, durch
unablaͤßigen Fleiß in Griechiſchen Buͤchern, ſonderlich
durch Leſung der critiſchen Schrifften Ariſtotelis, Crito-
nis, Zenonis, Democriti und Neoptolemi von Paros, in
den Regeln deſſelben recht feſt geſetzet hatte.

Jndeſſen muß niemand dencken, daß hier der Poet ein
vollſtaͤndiges ſyſtematiſches Werck habe machen wollen.
Die groͤſten Bewunderer deſſelben geſtehen, daß es ohne
alle Ordnung geſchrieben ſey, und bey weitem nicht alle
Regeln in ſich faſſe, die zur Poeſie gehoͤren. Der Ver-
faſſer hat ſich an keinen Zwang einer philoſophiſchen Ein-
richtung binden wollen; ſondern als ein Poet nach Ver-
anlaſſung ſeiner Einfaͤlle, bald dieſe bald jene Poetiſche
Regel in einer edlen Schreibart Vers-weiſe ausgedruͤckt.
Aber alles was er ſagt iſt hoͤchſtvernuͤnftig, und man kan
ſich von ſeinen Fuͤrſchrifften kein Haar-breit entfernen,
ohne zugleich von der Wahrheit, Natur und geſunden
Vernunft abzuweichen. Die unordentliche Vermiſchung
ſeiner Regeln dienet nur dazu, daß durch dieſe Mannig-
faltigkeit, und unvermuthete Abwechſelung der Sachen,
der Leſer deſtomehr beluſtiget und eingenommen werde.

Es iſt dieſe Dichtkunſt Horatii bereits von dem be-

ruͤhm-
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[5/0033] Vorbericht. Jahr alt war, Buͤrgermeiſter geworden; und an deſſen Soͤhne. Dieſer Piſo war ein Liebhaber und groſſer Kenner der Poeſie, und ſein aͤlteſter Sohn mochte ſelbſt viel Luſt und Naturell dazu haben, wie aus dem Gedichte ſattſam erhellen wird. Dieſen anſehnlichen Leuten, die am Kaͤyſerlichen Hofe in groſſen Gnaden ſtunden, wollte Horatz eine Richtſchnur in die Hand geben, darnach ſie ſich in Beurtheilung aller Gedichte achten koͤnnten; zu gleicher Zeit aber den guten Geſchmack des Hofes in gantz Rom und Jtalien ausbreiten: nachdem er ſich ſelbſt, durch unablaͤßigen Fleiß in Griechiſchen Buͤchern, ſonderlich durch Leſung der critiſchen Schrifften Ariſtotelis, Crito- nis, Zenonis, Democriti und Neoptolemi von Paros, in den Regeln deſſelben recht feſt geſetzet hatte. Jndeſſen muß niemand dencken, daß hier der Poet ein vollſtaͤndiges ſyſtematiſches Werck habe machen wollen. Die groͤſten Bewunderer deſſelben geſtehen, daß es ohne alle Ordnung geſchrieben ſey, und bey weitem nicht alle Regeln in ſich faſſe, die zur Poeſie gehoͤren. Der Ver- faſſer hat ſich an keinen Zwang einer philoſophiſchen Ein- richtung binden wollen; ſondern als ein Poet nach Ver- anlaſſung ſeiner Einfaͤlle, bald dieſe bald jene Poetiſche Regel in einer edlen Schreibart Vers-weiſe ausgedruͤckt. Aber alles was er ſagt iſt hoͤchſtvernuͤnftig, und man kan ſich von ſeinen Fuͤrſchrifften kein Haar-breit entfernen, ohne zugleich von der Wahrheit, Natur und geſunden Vernunft abzuweichen. Die unordentliche Vermiſchung ſeiner Regeln dienet nur dazu, daß durch dieſe Mannig- faltigkeit, und unvermuthete Abwechſelung der Sachen, der Leſer deſtomehr beluſtiget und eingenommen werde. Es iſt dieſe Dichtkunſt Horatii bereits von dem be- ruͤhm- a 4

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/33>, abgerufen am 19.04.2024.