Die gantze Ode ist voll solcher Stellen, und ich will also nur aus einem wiedrigen Affecte was hersetzen. Es ist sol- ches die Traurigkeit, und davon will ich das Exempel aus Canitzens Ode auf seine Doris nehmen. Diese ist gleich- falls gantz affectuös gesetzt, und drücket den zärtlichsten Schmertz sehr natürlich und beweglich aus. Er fängt un- ter andern einmahl gantz unvermuthet an:
Helfte meines matten Lebens! Doris! ist es gantz vergebens, Daß ich kläglich um dich thu?
Andre schöne Stellen sind schon in den vorhergehenden Ca- piteln daraus angemercket; ich will hier nur noch eine her- setzen, die mir einen Tadel zu verdienen scheint. Es ist fol- gende.
Alles das hab ich verlohren! Ach wie werd ich Traurens-voll! Hat mein Unstern sich verschworen, Daß ich sterbend leben soll?
Die letzte Zeile ist es, was mir nicht gefällt. Sterbend leben, ist viel zu künstlich, vor einen wahrhafftig Betrübten. Es ist eine gesuchte Antithesis, ein verwerfliches Spiel der Gedancken, so sich zum wenigsten in keinen Affect schicket.
Zum andern schickt sich die pathetische Schreibart in die Elegien, wo man entweder Verstorbene beklagen, oder was verliebtes schreiben will, denn dazu gehört eigentlich die Elegie. Ovidius und Tibullus sind hierinn rechte Mei- ster gewesen. Nichts ist beweglicher zu lesen, als ihre Klag- schreiben und verliebte Briefe. Alles ist herzrührend, und die Kunst scheint weit davon entfernet zu seyn; herrscht aber um desto mehr darinn. Jch wüste fast im Deutschen nicht, wer sich in Elegien recht hervorgethan hätte. Hoffmanns- waldaus Helden-Briefe sollten hier zwar zu Mustern die- nen, imgleichen hat Ziegler uns von Biblischen Historien dergleichen gemacht; allein ich fühle mein Lebenlang keinen Affect, wenn ich sie lese. Und wie wäre es möglich, da sie mit lauter Spielen der Phantasie, mit lauter Ambra und Zibeth, Rosen und Nelcken, Mosch und Jesmin, und Musca-
teller
Das XI. Capitel
Die gantze Ode iſt voll ſolcher Stellen, und ich will alſo nur aus einem wiedrigen Affecte was herſetzen. Es iſt ſol- ches die Traurigkeit, und davon will ich das Exempel aus Canitzens Ode auf ſeine Doris nehmen. Dieſe iſt gleich- falls gantz affectuoͤs geſetzt, und druͤcket den zaͤrtlichſten Schmertz ſehr natuͤrlich und beweglich aus. Er faͤngt un- ter andern einmahl gantz unvermuthet an:
Helfte meines matten Lebens! Doris! iſt es gantz vergebens, Daß ich klaͤglich um dich thu?
Andre ſchoͤne Stellen ſind ſchon in den vorhergehenden Ca- piteln daraus angemercket; ich will hier nur noch eine her- ſetzen, die mir einen Tadel zu verdienen ſcheint. Es iſt fol- gende.
Alles das hab ich verlohren! Ach wie werd ich Traurens-voll! Hat mein Unſtern ſich verſchworen, Daß ich ſterbend leben ſoll?
Die letzte Zeile iſt es, was mir nicht gefaͤllt. Sterbend leben, iſt viel zu kuͤnſtlich, vor einen wahrhafftig Betruͤbten. Es iſt eine geſuchte Antitheſis, ein verwerfliches Spiel der Gedancken, ſo ſich zum wenigſten in keinen Affect ſchicket.
Zum andern ſchickt ſich die pathetiſche Schreibart in die Elegien, wo man entweder Verſtorbene beklagen, oder was verliebtes ſchreiben will, denn dazu gehoͤrt eigentlich die Elegie. Ovidius und Tibullus ſind hierinn rechte Mei- ſter geweſen. Nichts iſt beweglicher zu leſen, als ihre Klag- ſchreiben und verliebte Briefe. Alles iſt herzruͤhrend, und die Kunſt ſcheint weit davon entfernet zu ſeyn; herrſcht aber um deſto mehr darinn. Jch wuͤſte faſt im Deutſchen nicht, wer ſich in Elegien recht hervorgethan haͤtte. Hoffmanns- waldaus Helden-Briefe ſollten hier zwar zu Muſtern die- nen, imgleichen hat Ziegler uns von Bibliſchen Hiſtorien dergleichen gemacht; allein ich fuͤhle mein Lebenlang keinen Affect, wenn ich ſie leſe. Und wie waͤre es moͤglich, da ſie mit lauter Spielen der Phantaſie, mit lauter Ambra und Zibeth, Roſen und Nelcken, Moſch und Jeſmin, und Muſca-
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Das XI. Capitel
Die gantze Ode iſt voll ſolcher Stellen, und ich will alſo
nur aus einem wiedrigen Affecte was herſetzen. Es iſt ſol-
ches die Traurigkeit, und davon will ich das Exempel aus
Canitzens Ode auf ſeine Doris nehmen. Dieſe iſt gleich-
falls gantz affectuoͤs geſetzt, und druͤcket den zaͤrtlichſten
Schmertz ſehr natuͤrlich und beweglich aus. Er faͤngt un-
ter andern einmahl gantz unvermuthet an:
Helfte meines matten Lebens!
Doris! iſt es gantz vergebens,
Daß ich klaͤglich um dich thu?
Andre ſchoͤne Stellen ſind ſchon in den vorhergehenden Ca-
piteln daraus angemercket; ich will hier nur noch eine her-
ſetzen, die mir einen Tadel zu verdienen ſcheint. Es iſt fol-
gende.
Alles das hab ich verlohren!
Ach wie werd ich Traurens-voll!
Hat mein Unſtern ſich verſchworen,
Daß ich ſterbend leben ſoll?
Die letzte Zeile iſt es, was mir nicht gefaͤllt. Sterbend
leben, iſt viel zu kuͤnſtlich, vor einen wahrhafftig Betruͤbten.
Es iſt eine geſuchte Antitheſis, ein verwerfliches Spiel der
Gedancken, ſo ſich zum wenigſten in keinen Affect ſchicket.
Zum andern ſchickt ſich die pathetiſche Schreibart in
die Elegien, wo man entweder Verſtorbene beklagen, oder
was verliebtes ſchreiben will, denn dazu gehoͤrt eigentlich
die Elegie. Ovidius und Tibullus ſind hierinn rechte Mei-
ſter geweſen. Nichts iſt beweglicher zu leſen, als ihre Klag-
ſchreiben und verliebte Briefe. Alles iſt herzruͤhrend, und
die Kunſt ſcheint weit davon entfernet zu ſeyn; herrſcht aber
um deſto mehr darinn. Jch wuͤſte faſt im Deutſchen nicht,
wer ſich in Elegien recht hervorgethan haͤtte. Hoffmanns-
waldaus Helden-Briefe ſollten hier zwar zu Muſtern die-
nen, imgleichen hat Ziegler uns von Bibliſchen Hiſtorien
dergleichen gemacht; allein ich fuͤhle mein Lebenlang keinen
Affect, wenn ich ſie leſe. Und wie waͤre es moͤglich, da ſie
mit lauter Spielen der Phantaſie, mit lauter Ambra und
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/328>, abgerufen am 24.11.2024.
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