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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der poetischen Schreibart.
sagt gleich im Anfange, daß er Jus sceleri datum besingen
wolle; wie das ärgste Bubenstück, verstehe Cäsars Herrsch-
sucht, recht bekommen, oder gesieget habe. Wer hier
nicht der gesunden Vernunft Platz geben will, der muß in
der Bewunderung Lucans gantz und gar ersoffen seyn.

Nicht besser klingen viele Stellen, ja gantze Tragödien
Senecä. Man darf nur das Buch aufthun, dergleichen
schwülstige Schreibart anzutreffen. Jch will nur eine Stelle
aus dem Hercules Oetäus anführen, welche Tragödie ihm
auch zugeschrieben wird. Hercules will in die Zahl der
Götter aufgenommen werden, und muß folgendergestalt
den Jupiter anreden:

Quid tamen nectis moras
Numquid timemur? numquid impositum sibi
Non poterit Atlas ferre cum caelo Herculem? &c.
Da, da tuendos Jupiter saltem Deos.
Illa licebit fulmen a parte auferas,
Ego quam tuebor. Siue glacialem polum
Seu me tueri feruidam partem iubes,
Hac esse superos parte securos puta.

Jch will nur eine prosaische Ubersetzung davon geben: "Was
"säumst du noch lange, Jupiter? Fürchtest du dich etwa vor
"mir? oder wird Atlas den Hercules mit dem Himmel zu-
"gleich nicht ertragen können? Gib, gib mir, o Jupiter, zum
"wenigsten das Amt die Götter zu beschützen. Der Theil
"des Himmels, den ich vertheidigen werde, wird deiner
"Donnerkeile nicht bedürfen. Du magst mir entweder
"den kalten Nordpol, oder die hitzige Mittags-Gegend anver-
"trauen, so kanstu versichert seyn, daß die Götter unter mei-
"nem Schutze sicher seyn sollen." Das ausschweifende
Wesen dieser Rede zu entdecken ist gar nicht nöthig; und
ich würde dem Verstande meiner Leser viel zu wenig zu-
trauen, wenn ich ihnen in einer so handgreiflichen Sache
behülflich seyn wollte.

Jm Deutschen kan uns Lohenstein die Muster einer so
schwülstigen Schreibart geben. Seine Tragödien sind ü-
berall damit angefüllt, und er verdient deßwegen der Deut-
sche Seneca zu heißen. Jn dem Schauspiele Jbrahim

Sul-
T 5

Von der poetiſchen Schreibart.
ſagt gleich im Anfange, daß er Jus ſceleri datum beſingen
wolle; wie das aͤrgſte Bubenſtuͤck, verſtehe Caͤſars Herrſch-
ſucht, recht bekommen, oder geſieget habe. Wer hier
nicht der geſunden Vernunft Platz geben will, der muß in
der Bewunderung Lucans gantz und gar erſoffen ſeyn.

Nicht beſſer klingen viele Stellen, ja gantze Tragoͤdien
Senecaͤ. Man darf nur das Buch aufthun, dergleichen
ſchwuͤlſtige Schreibart anzutreffen. Jch will nur eine Stelle
aus dem Hercules Oetaͤus anfuͤhren, welche Tragoͤdie ihm
auch zugeſchrieben wird. Hercules will in die Zahl der
Goͤtter aufgenommen werden, und muß folgendergeſtalt
den Jupiter anreden:

Quid tamen nectis moras
Numquid timemur? numquid impoſitum ſibi
Non poterit Atlas ferre cum caelo Herculem? &c.
Da, da tuendos Jupiter ſaltem Deos.
Illa licebit fulmen a parte auferas,
Ego quam tuebor. Siue glacialem polum
Seu me tueri feruidam partem iubes,
Hac eſſe ſuperos parte ſecuros puta.

Jch will nur eine proſaiſche Uberſetzung davon geben: „Was
„ſaͤumſt du noch lange, Jupiter? Fuͤrchteſt du dich etwa vor
„mir? oder wird Atlas den Hercules mit dem Himmel zu-
„gleich nicht ertragen koͤnnen? Gib, gib mir, o Jupiter, zum
„wenigſten das Amt die Goͤtter zu beſchuͤtzen. Der Theil
„des Himmels, den ich vertheidigen werde, wird deiner
„Donnerkeile nicht beduͤrfen. Du magſt mir entweder
„den kalten Nordpol, oder die hitzige Mittags-Gegend anver-
„trauen, ſo kanſtu verſichert ſeyn, daß die Goͤtter unter mei-
„nem Schutze ſicher ſeyn ſollen.„ Das ausſchweifende
Weſen dieſer Rede zu entdecken iſt gar nicht noͤthig; und
ich wuͤrde dem Verſtande meiner Leſer viel zu wenig zu-
trauen, wenn ich ihnen in einer ſo handgreiflichen Sache
behuͤlflich ſeyn wollte.

Jm Deutſchen kan uns Lohenſtein die Muſter einer ſo
ſchwuͤlſtigen Schreibart geben. Seine Tragoͤdien ſind uͤ-
berall damit angefuͤllt, und er verdient deßwegen der Deut-
ſche Seneca zu heißen. Jn dem Schauſpiele Jbrahim

Sul-
T 5
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[297/0325] Von der poetiſchen Schreibart. ſagt gleich im Anfange, daß er Jus ſceleri datum beſingen wolle; wie das aͤrgſte Bubenſtuͤck, verſtehe Caͤſars Herrſch- ſucht, recht bekommen, oder geſieget habe. Wer hier nicht der geſunden Vernunft Platz geben will, der muß in der Bewunderung Lucans gantz und gar erſoffen ſeyn. Nicht beſſer klingen viele Stellen, ja gantze Tragoͤdien Senecaͤ. Man darf nur das Buch aufthun, dergleichen ſchwuͤlſtige Schreibart anzutreffen. Jch will nur eine Stelle aus dem Hercules Oetaͤus anfuͤhren, welche Tragoͤdie ihm auch zugeſchrieben wird. Hercules will in die Zahl der Goͤtter aufgenommen werden, und muß folgendergeſtalt den Jupiter anreden: Quid tamen nectis moras Numquid timemur? numquid impoſitum ſibi Non poterit Atlas ferre cum caelo Herculem? &c. Da, da tuendos Jupiter ſaltem Deos. Illa licebit fulmen a parte auferas, Ego quam tuebor. Siue glacialem polum Seu me tueri feruidam partem iubes, Hac eſſe ſuperos parte ſecuros puta. Jch will nur eine proſaiſche Uberſetzung davon geben: „Was „ſaͤumſt du noch lange, Jupiter? Fuͤrchteſt du dich etwa vor „mir? oder wird Atlas den Hercules mit dem Himmel zu- „gleich nicht ertragen koͤnnen? Gib, gib mir, o Jupiter, zum „wenigſten das Amt die Goͤtter zu beſchuͤtzen. Der Theil „des Himmels, den ich vertheidigen werde, wird deiner „Donnerkeile nicht beduͤrfen. Du magſt mir entweder „den kalten Nordpol, oder die hitzige Mittags-Gegend anver- „trauen, ſo kanſtu verſichert ſeyn, daß die Goͤtter unter mei- „nem Schutze ſicher ſeyn ſollen.„ Das ausſchweifende Weſen dieſer Rede zu entdecken iſt gar nicht noͤthig; und ich wuͤrde dem Verſtande meiner Leſer viel zu wenig zu- trauen, wenn ich ihnen in einer ſo handgreiflichen Sache behuͤlflich ſeyn wollte. Jm Deutſchen kan uns Lohenſtein die Muſter einer ſo ſchwuͤlſtigen Schreibart geben. Seine Tragoͤdien ſind uͤ- berall damit angefuͤllt, und er verdient deßwegen der Deut- ſche Seneca zu heißen. Jn dem Schauſpiele Jbrahim Sul- T 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/325>, abgerufen am 24.11.2024.