Die Tugend Kinder zeugt, der Purpur sich verjüngt, Geschlechter unverrückt bis auf die Nachwelt bleiben, Ja daß der Weisheit nicht der Tod zu Grabe singt, Dieß alles ist mit Recht der Liebe zuzuschreiben.
Noch ein anders steht in Flemmings Oden. p. 428.
Zur XVIIIten machet man die Personen-Dichtung(Pro- sopopoeia), welche leblosen Dingen solche Eigenschafften zu- schreibet, die nur beseelten ja vernünftigen Geschöpfen zu- kommen. Es werden aber gemeiniglich die Flüsse, Win- de, Meere, Steine, Jahreszeiten, ja gantze Städte und Länder dergestalt in Personen verwandelt; ja man führt auch Tugenden und Laster, Leidenschafften und d. m. redend ein: so daß dieses eine Figur ist, die zu viel schönen Erfin- dungen Anlaß giebt. Simon Dach führt den Königsber- gischen Pregel-Strom, in einem Gedichte auf die Geburt eines Preußischen Printzen dergestalt auf:
Was! der Brückenreiche Pregel, Hebt durch Flaggen, Mast und Seegel, Sein beschilftes Haupt empor. Und nachdem er angesehen, Was und warum es geschehen, Läuft er schneller als zuvor.
Flemming ist in dieser Figur sehr kühn gewesen, sonderlich in seinen Oden. Er sagt von einem Strome, den er kurtz zuvor sein schilficht Haupt erheben lassen, daß er dreymahl laut solle gelachet haben. Von der Erde spricht er im Frühlinge:
Sie streicht mit verliebtem Finger Jhre Runtzeln von der Haut.
Der Lentz kommt gegangen, und umarmet die Welt, die erwachte Rose thut ihr Auge zu, und die Cypressen taumeln ihm, wenn es Abend wird. Die Morgenröthe kommt in der Anemonen Tracht, in den purpurbraunen Wangen, als die Vertreiberin der Nacht vor der Sonnen hergegangen, und nimmt bey seiner Ankunft schamroth den Abschied.
Sehr nahe ist damit die XIXte Figur verwandelt, welche man die Sprach-Dichtung(Sermocinatio) nennen
kan
Das X. Capitel
Die Tugend Kinder zeugt, der Purpur ſich verjuͤngt, Geſchlechter unverruͤckt bis auf die Nachwelt bleiben, Ja daß der Weisheit nicht der Tod zu Grabe ſingt, Dieß alles iſt mit Recht der Liebe zuzuſchreiben.
Noch ein anders ſteht in Flemmings Oden. p. 428.
Zur XVIIIten machet man die Perſonen-Dichtung(Pro- ſopopoeia), welche lebloſen Dingen ſolche Eigenſchafften zu- ſchreibet, die nur beſeelten ja vernuͤnftigen Geſchoͤpfen zu- kommen. Es werden aber gemeiniglich die Fluͤſſe, Win- de, Meere, Steine, Jahreszeiten, ja gantze Staͤdte und Laͤnder dergeſtalt in Perſonen verwandelt; ja man fuͤhrt auch Tugenden und Laſter, Leidenſchafften und d. m. redend ein: ſo daß dieſes eine Figur iſt, die zu viel ſchoͤnen Erfin- dungen Anlaß giebt. Simon Dach fuͤhrt den Koͤnigsber- giſchen Pregel-Strom, in einem Gedichte auf die Geburt eines Preußiſchen Printzen dergeſtalt auf:
Was! der Bruͤckenreiche Pregel, Hebt durch Flaggen, Maſt und Seegel, Sein beſchilftes Haupt empor. Und nachdem er angeſehen, Was und warum es geſchehen, Laͤuft er ſchneller als zuvor.
Flemming iſt in dieſer Figur ſehr kuͤhn geweſen, ſonderlich in ſeinen Oden. Er ſagt von einem Strome, den er kurtz zuvor ſein ſchilficht Haupt erheben laſſen, daß er dreymahl laut ſolle gelachet haben. Von der Erde ſpricht er im Fruͤhlinge:
Sie ſtreicht mit verliebtem Finger Jhre Runtzeln von der Haut.
Der Lentz kommt gegangen, und umarmet die Welt, die erwachte Roſe thut ihr Auge zu, und die Cypreſſen taumeln ihm, wenn es Abend wird. Die Morgenroͤthe kommt in der Anemonen Tracht, in den purpurbraunen Wangen, als die Vertreiberin der Nacht vor der Sonnen hergegangen, und nimmt bey ſeiner Ankunft ſchamroth den Abſchied.
Sehr nahe iſt damit die XIXte Figur verwandelt, welche man die Sprach-Dichtung(Sermocinatio) nennen
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Das X. Capitel
Die Tugend Kinder zeugt, der Purpur ſich verjuͤngt,
Geſchlechter unverruͤckt bis auf die Nachwelt bleiben,
Ja daß der Weisheit nicht der Tod zu Grabe ſingt,
Dieß alles iſt mit Recht der Liebe zuzuſchreiben.
Noch ein anders ſteht in Flemmings Oden. p. 428.
Zur XVIIIten machet man die Perſonen-Dichtung (Pro-
ſopopoeia), welche lebloſen Dingen ſolche Eigenſchafften zu-
ſchreibet, die nur beſeelten ja vernuͤnftigen Geſchoͤpfen zu-
kommen. Es werden aber gemeiniglich die Fluͤſſe, Win-
de, Meere, Steine, Jahreszeiten, ja gantze Staͤdte und
Laͤnder dergeſtalt in Perſonen verwandelt; ja man fuͤhrt
auch Tugenden und Laſter, Leidenſchafften und d. m. redend
ein: ſo daß dieſes eine Figur iſt, die zu viel ſchoͤnen Erfin-
dungen Anlaß giebt. Simon Dach fuͤhrt den Koͤnigsber-
giſchen Pregel-Strom, in einem Gedichte auf die Geburt
eines Preußiſchen Printzen dergeſtalt auf:
Was! der Bruͤckenreiche Pregel,
Hebt durch Flaggen, Maſt und Seegel,
Sein beſchilftes Haupt empor.
Und nachdem er angeſehen,
Was und warum es geſchehen,
Laͤuft er ſchneller als zuvor.
Flemming iſt in dieſer Figur ſehr kuͤhn geweſen, ſonderlich
in ſeinen Oden. Er ſagt von einem Strome, den er kurtz
zuvor ſein ſchilficht Haupt erheben laſſen, daß er dreymahl
laut ſolle gelachet haben. Von der Erde ſpricht er im
Fruͤhlinge:
Sie ſtreicht mit verliebtem Finger
Jhre Runtzeln von der Haut.
Der Lentz kommt gegangen, und umarmet die Welt, die
erwachte Roſe thut ihr Auge zu, und die Cypreſſen taumeln
ihm, wenn es Abend wird. Die Morgenroͤthe kommt in
der Anemonen Tracht, in den purpurbraunen Wangen, als
die Vertreiberin der Nacht vor der Sonnen hergegangen,
und nimmt bey ſeiner Ankunft ſchamroth den Abſchied.
Sehr nahe iſt damit die XIXte Figur verwandelt,
welche man die Sprach-Dichtung (Sermocinatio) nennen
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/302>, abgerufen am 28.11.2024.
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