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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von den Figuren in der Poesie.

Die XIV. mag die Zergliederung (Distributio) heißen,
und besteht aus einer ausführlichen Erzehlung aller Theile,
die bey einer Sache vorkommen, wodurch denn dieselbe
dem Gemüthe sehr deutlich und ausführlich vorgestellet
wird. Das Exempel soll mir Günther geben, der die
Verderbniß der Welt folgendergestalt beschreibt: p. 330.
I.
Th.

Da schreckt mich hier und dort Krieg, Hunger, Pest und Brand;
Jn Ehen, Zanck und Haß, in Freundschafft, Unbestand;
Jm Tempel, Hochmuth, Geitz, Verläumdung, Wechselbäncke;
Jn Schulen, Finsterniß und leeres Wortgezäncke,
Jn Themis Heiligthum, ein goldnes Spinnen-Nest,
Das magre Fliegen fängt und Hummeln schwärmen läßt;
Jm reich'sten Contoir, viel Fluch an schönen Wänden;
Und endlich überhaupt in groß und kleinen Ständen
Das Leben und die Zeit der hundert zwantzig Jahr,
Eh Noah mit dem Bau des Kastens fertig war.

Ein anders giebt Heräus in seiner Beschreibung der Lapp-
länder, wenn er die Unruhe unserer Städte gleichsam auf
den Fingern herzehlet: p. 250.

Bey Nacht der Glockenklang, der Wächter rauhes Schreyen,
Verliebter Geigen Thon; der feigen Raufer Dräuen;
Besoffener Gekreisch; wenn Hund und Katze plerrt,
Ein jäher Feuer-Lerm; ein Dieb der sich versperrt:
Am Tag ein krummes Horn, der Kutschen ewigs Rollen,
Des Haufens Polterwerck, das im Gedräng erschollen,
Der Hämmer Klapperschall, was Vieh und Karren treibt,
Verkauf- und Träger-Ruf, und was noch übrig bleibt.

Zum XVten folgt der Gegensatz (Antithesis), wo man
wiederwärtige Dinge gegen einander stellt, um das eine
desto mehr ins Licht zu setzen. So beschreibt Opitz seinen
verwirrten Zustand in der Liebe: p. 180. der Poet. W.
IV. B.

Jch fürcht und hoffe doch, ich bitt und schweig auch stille;
Jch bin wie kaltes Eis und fühle Glut die Fülle;
Jch lös' und binde mich; ich wünsche frey zu seyn,
Und wenn ich denn frey bin, so geh ich wieder ein.

Fol-
Von den Figuren in der Poeſie.

Die XIV. mag die Zergliederung (Diſtributio) heißen,
und beſteht aus einer ausfuͤhrlichen Erzehlung aller Theile,
die bey einer Sache vorkommen, wodurch denn dieſelbe
dem Gemuͤthe ſehr deutlich und ausfuͤhrlich vorgeſtellet
wird. Das Exempel ſoll mir Guͤnther geben, der die
Verderbniß der Welt folgendergeſtalt beſchreibt: p. 330.
I.
Th.

Da ſchreckt mich hier und dort Krieg, Hunger, Peſt und Brand;
Jn Ehen, Zanck und Haß, in Freundſchafft, Unbeſtand;
Jm Tempel, Hochmuth, Geitz, Verlaͤumdung, Wechſelbaͤncke;
Jn Schulen, Finſterniß und leeres Wortgezaͤncke,
Jn Themis Heiligthum, ein goldnes Spinnen-Neſt,
Das magre Fliegen faͤngt und Hummeln ſchwaͤrmen laͤßt;
Jm reich’ſten Contoir, viel Fluch an ſchoͤnen Waͤnden;
Und endlich uͤberhaupt in groß und kleinen Staͤnden
Das Leben und die Zeit der hundert zwantzig Jahr,
Eh Noah mit dem Bau des Kaſtens fertig war.

Ein anders giebt Heraͤus in ſeiner Beſchreibung der Lapp-
laͤnder, wenn er die Unruhe unſerer Staͤdte gleichſam auf
den Fingern herzehlet: p. 250.

Bey Nacht der Glockenklang, der Waͤchter rauhes Schreyen,
Verliebter Geigen Thon; der feigen Raufer Draͤuen;
Beſoffener Gekreiſch; wenn Hund und Katze plerrt,
Ein jaͤher Feuer-Lerm; ein Dieb der ſich verſperrt:
Am Tag ein krummes Horn, der Kutſchen ewigs Rollen,
Des Haufens Polterwerck, das im Gedraͤng erſchollen,
Der Haͤmmer Klapperſchall, was Vieh und Karren treibt,
Verkauf- und Traͤger-Ruf, und was noch uͤbrig bleibt.

Zum XVten folgt der Gegenſatz (Antitheſis), wo man
wiederwaͤrtige Dinge gegen einander ſtellt, um das eine
deſto mehr ins Licht zu ſetzen. So beſchreibt Opitz ſeinen
verwirrten Zuſtand in der Liebe: p. 180. der Poet. W.
IV. B.

Jch fuͤrcht und hoffe doch, ich bitt und ſchweig auch ſtille;
Jch bin wie kaltes Eis und fuͤhle Glut die Fuͤlle;
Jch loͤſ’ und binde mich; ich wuͤnſche frey zu ſeyn,
Und wenn ich denn frey bin, ſo geh ich wieder ein.

Fol-
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[271/0299] Von den Figuren in der Poeſie. Die XIV. mag die Zergliederung (Diſtributio) heißen, und beſteht aus einer ausfuͤhrlichen Erzehlung aller Theile, die bey einer Sache vorkommen, wodurch denn dieſelbe dem Gemuͤthe ſehr deutlich und ausfuͤhrlich vorgeſtellet wird. Das Exempel ſoll mir Guͤnther geben, der die Verderbniß der Welt folgendergeſtalt beſchreibt: p. 330. I. Th. Da ſchreckt mich hier und dort Krieg, Hunger, Peſt und Brand; Jn Ehen, Zanck und Haß, in Freundſchafft, Unbeſtand; Jm Tempel, Hochmuth, Geitz, Verlaͤumdung, Wechſelbaͤncke; Jn Schulen, Finſterniß und leeres Wortgezaͤncke, Jn Themis Heiligthum, ein goldnes Spinnen-Neſt, Das magre Fliegen faͤngt und Hummeln ſchwaͤrmen laͤßt; Jm reich’ſten Contoir, viel Fluch an ſchoͤnen Waͤnden; Und endlich uͤberhaupt in groß und kleinen Staͤnden Das Leben und die Zeit der hundert zwantzig Jahr, Eh Noah mit dem Bau des Kaſtens fertig war. Ein anders giebt Heraͤus in ſeiner Beſchreibung der Lapp- laͤnder, wenn er die Unruhe unſerer Staͤdte gleichſam auf den Fingern herzehlet: p. 250. Bey Nacht der Glockenklang, der Waͤchter rauhes Schreyen, Verliebter Geigen Thon; der feigen Raufer Draͤuen; Beſoffener Gekreiſch; wenn Hund und Katze plerrt, Ein jaͤher Feuer-Lerm; ein Dieb der ſich verſperrt: Am Tag ein krummes Horn, der Kutſchen ewigs Rollen, Des Haufens Polterwerck, das im Gedraͤng erſchollen, Der Haͤmmer Klapperſchall, was Vieh und Karren treibt, Verkauf- und Traͤger-Ruf, und was noch uͤbrig bleibt. Zum XVten folgt der Gegenſatz (Antitheſis), wo man wiederwaͤrtige Dinge gegen einander ſtellt, um das eine deſto mehr ins Licht zu ſetzen. So beſchreibt Opitz ſeinen verwirrten Zuſtand in der Liebe: p. 180. der Poet. W. IV. B. Jch fuͤrcht und hoffe doch, ich bitt und ſchweig auch ſtille; Jch bin wie kaltes Eis und fuͤhle Glut die Fuͤlle; Jch loͤſ’ und binde mich; ich wuͤnſche frey zu ſeyn, Und wenn ich denn frey bin, ſo geh ich wieder ein. Fol-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/299>, abgerufen am 22.11.2024.