Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Von den Figuren in der Poesie.
der Hefftigkeit des Affects, welcher alles zusammen nimmt,
die Leser oder Zuhörer aufs handgreiflichste zu rühren und
zu überzeugen. Man giebt insgemein die Exempel davon:
Jch hab ihn nicht mit Augen gesehen; ich bin nicht
mit meinem Fuße hingekommen. Wir habens mit
unsern Ohren gehöret.
etc. Allein da dergleichen Redens-
arten so viel nicht vorkommen, so kan man folgende Art
mit gutem Rechte hieher rechnen: Z. E. wenn Günther seine
Liebste p. 264. im I. Theil so anredet:

Kind, Engel, Schwester, Schatz, Braut, Taube, Freundin, Licht,
Mein Stern, mein Trost, mein Hertz, mein Ancker und mein Leben,
Ach sage doch, wie man recht nett und zierlich spricht,
Die Liebe will dir gern den besten Titel geben.

Zur XIten kan die Verdoppelung (Synonymia) einer und
derselben Sache, die aber mit gantz andern Worten ge-
schieht, gezogen werden. Einer, der im Affecte steht, be-
müht sich seinen Lesern und Zuhörern die Sachen recht ein-
zuprägen und einzutrichtern. Daher sagt er ihnen auch
wohl einerley Ding etlichemahl, nur immer mit andern
Ausdrückungen. Anstatt eines Exempels könnte hier aus
Bessers Ruhestatt der Liebe die lange und vielmahlige Be-
schreibung des Schooßes seiner Geliebten dienen: Jch will
aber lieber folgendes hieher setzen, wo er sich und seine Kühl-
weinin auf verschiedene Art beschreibet. p. 227.

Zwo Seelen, durch ein Feur wie Wachs zu Hauf geronnen,
Zwey Hertzen, die vermischt ein Wesen nur gewonnen,
Zween Menschen, die vereint ein Leben nur gefühlt,
Und deren jeder sich für eine Helfte hielt.

Dergleichen Stellen denn in diesem Gedichte fast unzehli-
che vorkommen, aber alle Proben des zärtlichsten Affects ab-
zulegen geschickt sind. Man könnte auch folgende Stelle
aus Günthern hieher rechnen, die man sonst eine Zusam-
menhäufung
nennen möchte. Er beschreibt einen Bücher-
saal:

Was Memphis, was Athen, was Rom, Groß-Griechenland,
Was Salem, was Byzanz, die Thems, der Cimber-Strand,
Gethan, gelehrt, geglaubt, gemeynt, gewust, gelogen,
Das kommt, das sammlet sich, das lebt, das dauret hier,
Auf

Von den Figuren in der Poeſie.
der Hefftigkeit des Affects, welcher alles zuſammen nimmt,
die Leſer oder Zuhoͤrer aufs handgreiflichſte zu ruͤhren und
zu uͤberzeugen. Man giebt insgemein die Exempel davon:
Jch hab ihn nicht mit Augen geſehen; ich bin nicht
mit meinem Fuße hingekommen. Wir habens mit
unſern Ohren gehoͤret.
ꝛc. Allein da dergleichen Redens-
arten ſo viel nicht vorkommen, ſo kan man folgende Art
mit gutem Rechte hieher rechnen: Z. E. wenn Guͤnther ſeine
Liebſte p. 264. im I. Theil ſo anredet:

Kind, Engel, Schweſter, Schatz, Braut, Taube, Freundin, Licht,
Mein Stern, mein Troſt, mein Hertz, mein Ancker und mein Leben,
Ach ſage doch, wie man recht nett und zierlich ſpricht,
Die Liebe will dir gern den beſten Titel geben.

Zur XIten kan die Verdoppelung (Synonymia) einer und
derſelben Sache, die aber mit gantz andern Worten ge-
ſchieht, gezogen werden. Einer, der im Affecte ſteht, be-
muͤht ſich ſeinen Leſern und Zuhoͤrern die Sachen recht ein-
zupraͤgen und einzutrichtern. Daher ſagt er ihnen auch
wohl einerley Ding etlichemahl, nur immer mit andern
Ausdruͤckungen. Anſtatt eines Exempels koͤnnte hier aus
Beſſers Ruheſtatt der Liebe die lange und vielmahlige Be-
ſchreibung des Schooßes ſeiner Geliebten dienen: Jch will
aber lieber folgendes hieher ſetzen, wo er ſich und ſeine Kuͤhl-
weinin auf verſchiedene Art beſchreibet. p. 227.

Zwo Seelen, durch ein Feur wie Wachs zu Hauf geronnen,
Zwey Hertzen, die vermiſcht ein Weſen nur gewonnen,
Zween Menſchen, die vereint ein Leben nur gefuͤhlt,
Und deren jeder ſich fuͤr eine Helfte hielt.

Dergleichen Stellen denn in dieſem Gedichte faſt unzehli-
che vorkommen, aber alle Proben des zaͤrtlichſten Affects ab-
zulegen geſchickt ſind. Man koͤnnte auch folgende Stelle
aus Guͤnthern hieher rechnen, die man ſonſt eine Zuſam-
menhaͤufung
nennen moͤchte. Er beſchreibt einen Buͤcher-
ſaal:

Was Memphis, was Athen, was Rom, Groß-Griechenland,
Was Salem, was Byzanz, die Thems, der Cimber-Strand,
Gethan, gelehrt, geglaubt, gemeynt, gewuſt, gelogen,
Das kommt, das ſammlet ſich, das lebt, das dauret hier,
Auf
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0295" n="267"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von den Figuren in der Poe&#x017F;ie.</hi></fw><lb/>
der Hefftigkeit des Affects, welcher alles zu&#x017F;ammen nimmt,<lb/>
die Le&#x017F;er oder Zuho&#x0364;rer aufs handgreiflich&#x017F;te zu ru&#x0364;hren und<lb/>
zu u&#x0364;berzeugen. Man giebt insgemein die Exempel davon:<lb/><hi rendition="#fr">Jch hab ihn nicht mit Augen ge&#x017F;ehen; ich bin nicht<lb/>
mit meinem Fuße hingekommen. Wir habens mit<lb/>
un&#x017F;ern Ohren geho&#x0364;ret.</hi> &#xA75B;c. Allein da dergleichen Redens-<lb/>
arten &#x017F;o viel nicht vorkommen, &#x017F;o kan man folgende Art<lb/>
mit gutem Rechte hieher rechnen: Z. E. wenn Gu&#x0364;nther &#x017F;eine<lb/>
Lieb&#x017F;te <hi rendition="#aq">p.</hi> 264. im <hi rendition="#aq">I.</hi> Theil &#x017F;o anredet:</p><lb/>
          <cit>
            <quote>Kind, Engel, Schwe&#x017F;ter, Schatz, Braut, Taube, Freundin, Licht,<lb/>
Mein Stern, mein Tro&#x017F;t, mein Hertz, mein Ancker und mein Leben,<lb/>
Ach &#x017F;age doch, wie man recht nett und zierlich &#x017F;pricht,<lb/>
Die Liebe will dir gern den be&#x017F;ten Titel geben.</quote>
          </cit><lb/>
          <p>Zur <hi rendition="#aq">XI</hi>ten kan die <hi rendition="#fr">Verdoppelung</hi> <hi rendition="#aq">(Synonymia)</hi> einer und<lb/>
der&#x017F;elben Sache, die aber mit gantz andern Worten ge-<lb/>
&#x017F;chieht, gezogen werden. Einer, der im Affecte &#x017F;teht, be-<lb/>
mu&#x0364;ht &#x017F;ich &#x017F;einen Le&#x017F;ern und Zuho&#x0364;rern die Sachen recht ein-<lb/>
zupra&#x0364;gen und einzutrichtern. Daher &#x017F;agt er ihnen auch<lb/>
wohl einerley Ding etlichemahl, nur immer mit andern<lb/>
Ausdru&#x0364;ckungen. An&#x017F;tatt eines Exempels ko&#x0364;nnte hier aus<lb/>
Be&#x017F;&#x017F;ers Ruhe&#x017F;tatt der Liebe die lange und vielmahlige Be-<lb/>
&#x017F;chreibung des Schooßes &#x017F;einer Geliebten dienen: Jch will<lb/>
aber lieber folgendes hieher &#x017F;etzen, wo er &#x017F;ich und &#x017F;eine Ku&#x0364;hl-<lb/>
weinin auf ver&#x017F;chiedene Art be&#x017F;chreibet. <hi rendition="#aq">p.</hi> 227.</p><lb/>
          <cit>
            <quote>Zwo Seelen, durch ein Feur wie Wachs zu Hauf geronnen,<lb/>
Zwey Hertzen, die vermi&#x017F;cht ein We&#x017F;en nur gewonnen,<lb/>
Zween Men&#x017F;chen, die vereint ein Leben nur gefu&#x0364;hlt,<lb/>
Und deren jeder &#x017F;ich fu&#x0364;r eine Helfte hielt.</quote>
          </cit><lb/>
          <p>Dergleichen Stellen denn in die&#x017F;em Gedichte fa&#x017F;t unzehli-<lb/>
che vorkommen, aber alle Proben des za&#x0364;rtlich&#x017F;ten Affects ab-<lb/>
zulegen ge&#x017F;chickt &#x017F;ind. Man ko&#x0364;nnte auch folgende Stelle<lb/>
aus Gu&#x0364;nthern hieher rechnen, die man &#x017F;on&#x017F;t eine <hi rendition="#fr">Zu&#x017F;am-<lb/>
menha&#x0364;ufung</hi> nennen mo&#x0364;chte. Er be&#x017F;chreibt einen Bu&#x0364;cher-<lb/>
&#x017F;aal:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Was Memphis, was Athen, was Rom, Groß-Griechenland,</l><lb/>
            <l>Was Salem, was Byzanz, die Thems, der Cimber-Strand,</l><lb/>
            <l>Gethan, gelehrt, geglaubt, gemeynt, gewu&#x017F;t, gelogen,</l><lb/>
            <l>Das kommt, das &#x017F;ammlet &#x017F;ich, das lebt, das dauret hier,</l><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Auf</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[267/0295] Von den Figuren in der Poeſie. der Hefftigkeit des Affects, welcher alles zuſammen nimmt, die Leſer oder Zuhoͤrer aufs handgreiflichſte zu ruͤhren und zu uͤberzeugen. Man giebt insgemein die Exempel davon: Jch hab ihn nicht mit Augen geſehen; ich bin nicht mit meinem Fuße hingekommen. Wir habens mit unſern Ohren gehoͤret. ꝛc. Allein da dergleichen Redens- arten ſo viel nicht vorkommen, ſo kan man folgende Art mit gutem Rechte hieher rechnen: Z. E. wenn Guͤnther ſeine Liebſte p. 264. im I. Theil ſo anredet: Kind, Engel, Schweſter, Schatz, Braut, Taube, Freundin, Licht, Mein Stern, mein Troſt, mein Hertz, mein Ancker und mein Leben, Ach ſage doch, wie man recht nett und zierlich ſpricht, Die Liebe will dir gern den beſten Titel geben. Zur XIten kan die Verdoppelung (Synonymia) einer und derſelben Sache, die aber mit gantz andern Worten ge- ſchieht, gezogen werden. Einer, der im Affecte ſteht, be- muͤht ſich ſeinen Leſern und Zuhoͤrern die Sachen recht ein- zupraͤgen und einzutrichtern. Daher ſagt er ihnen auch wohl einerley Ding etlichemahl, nur immer mit andern Ausdruͤckungen. Anſtatt eines Exempels koͤnnte hier aus Beſſers Ruheſtatt der Liebe die lange und vielmahlige Be- ſchreibung des Schooßes ſeiner Geliebten dienen: Jch will aber lieber folgendes hieher ſetzen, wo er ſich und ſeine Kuͤhl- weinin auf verſchiedene Art beſchreibet. p. 227. Zwo Seelen, durch ein Feur wie Wachs zu Hauf geronnen, Zwey Hertzen, die vermiſcht ein Weſen nur gewonnen, Zween Menſchen, die vereint ein Leben nur gefuͤhlt, Und deren jeder ſich fuͤr eine Helfte hielt. Dergleichen Stellen denn in dieſem Gedichte faſt unzehli- che vorkommen, aber alle Proben des zaͤrtlichſten Affects ab- zulegen geſchickt ſind. Man koͤnnte auch folgende Stelle aus Guͤnthern hieher rechnen, die man ſonſt eine Zuſam- menhaͤufung nennen moͤchte. Er beſchreibt einen Buͤcher- ſaal: Was Memphis, was Athen, was Rom, Groß-Griechenland, Was Salem, was Byzanz, die Thems, der Cimber-Strand, Gethan, gelehrt, geglaubt, gemeynt, gewuſt, gelogen, Das kommt, das ſammlet ſich, das lebt, das dauret hier, Auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/295
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/295>, abgerufen am 03.05.2024.