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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wunderbaren in der Poesie.
losen oder unvernünftigen Dingen redet, daß es recht wun-
derbar klinget. Davon wird aber in dem Capitel von den
verblümten Ausdrückungen mehr vorkommen.

Die Ovidianischen und Esopischen Fabeln könnten auch
einigermaßen hieher gezogen werden, weil jene den Ursprung
vieler Thiere und Blumen u. s. w. anzeigen, diese aber sonst
viel wunderbares von solchen Geschöpfen erzehlen. Allein
weil hiervon schon oben gehandelt worden, so ist eine Wie-
derholung hier unnöthig.

Die Gestirne sind endlich noch übrig, von denen die Poe-
ten auch viel seltsames und ungemeines zu erzehlen pflegen.
Die Cometen, so sich sehen lassen, haben bey ihnen gemei-
niglich eine böse Bedeutung, und einen wunderbaren Ein-
fluß. Die Sonn- und Mond-Finsternissen werden sehr
schrecklich von den Alten beschrieben, ja die Ungewitter, Erd-
beben und Sturmwinde machen auch einen großen Theil des
Wunderbaren in ihren Schrifften aus. Was die ersten
Stücke anlangt, so muß man freylich die Alten entschuldi-
gen, wenn sie sich aus den himmlischen Zeichen zu viel gema-
chet. Man verstund dazumahl die Naturlehre sehr schlecht:
allein itzo würde es eine Schande vor den Poeten seyn, wenn
er uns viel von dem Einflusse des Himmels reden wollte.
Daher klingt die gewöhnliche Opersprache sehr lächerlich,
wenn es immer heißt, die Sterne, der Himmel, und seine
Lichter hätten dieses oder jenes gethan: Es wäre denn, daß
man darunter das Verhängniß oder die Vorsehung verste-
hen könnte. Die Leute in Gestirne zu verwandeln geht heu-
te zu Tage nicht mehr an, nachdem der gantze Himmel so ge-
nau überzehlt ist, daß man keinen Stern finden kan, der
nicht schon vorhin bekannt gewesen wäre. Erschiene aber
irgend ein neuer Stern, so könnte freylich ein Poet dichten,
daß dieses oder jenes dazu Gelegenheit gegeben.

Die letztern Stücke so oben erwehnet worden, kan ein
Dichter mit gutem Fortgange brauchen. Ungewöhnliche
Witterungen, Donner und Blitz, Uberschwemmungen,
Schiffbrüche u. d. gl. sind freylich sehr wunderbar, wenn sie
nur natürlich beschrieben werden. Das ist aber die Kunst!

Man
L 2

Von dem Wunderbaren in der Poeſie.
loſen oder unvernuͤnftigen Dingen redet, daß es recht wun-
derbar klinget. Davon wird aber in dem Capitel von den
verbluͤmten Ausdruͤckungen mehr vorkommen.

Die Ovidianiſchen und Eſopiſchen Fabeln koͤnnten auch
einigermaßen hieher gezogen werden, weil jene den Urſprung
vieler Thiere und Blumen u. ſ. w. anzeigen, dieſe aber ſonſt
viel wunderbares von ſolchen Geſchoͤpfen erzehlen. Allein
weil hiervon ſchon oben gehandelt worden, ſo iſt eine Wie-
derholung hier unnoͤthig.

Die Geſtirne ſind endlich noch uͤbrig, von denen die Poe-
ten auch viel ſeltſames und ungemeines zu erzehlen pflegen.
Die Cometen, ſo ſich ſehen laſſen, haben bey ihnen gemei-
niglich eine boͤſe Bedeutung, und einen wunderbaren Ein-
fluß. Die Sonn- und Mond-Finſterniſſen werden ſehr
ſchrecklich von den Alten beſchrieben, ja die Ungewitter, Erd-
beben und Sturmwinde machen auch einen großen Theil des
Wunderbaren in ihren Schrifften aus. Was die erſten
Stuͤcke anlangt, ſo muß man freylich die Alten entſchuldi-
gen, wenn ſie ſich aus den himmliſchen Zeichen zu viel gema-
chet. Man verſtund dazumahl die Naturlehre ſehr ſchlecht:
allein itzo wuͤrde es eine Schande vor den Poeten ſeyn, wenn
er uns viel von dem Einfluſſe des Himmels reden wollte.
Daher klingt die gewoͤhnliche Operſprache ſehr laͤcherlich,
wenn es immer heißt, die Sterne, der Himmel, und ſeine
Lichter haͤtten dieſes oder jenes gethan: Es waͤre denn, daß
man darunter das Verhaͤngniß oder die Vorſehung verſte-
hen koͤnnte. Die Leute in Geſtirne zu verwandeln geht heu-
te zu Tage nicht mehr an, nachdem der gantze Himmel ſo ge-
nau uͤberzehlt iſt, daß man keinen Stern finden kan, der
nicht ſchon vorhin bekannt geweſen waͤre. Erſchiene aber
irgend ein neuer Stern, ſo koͤnnte freylich ein Poet dichten,
daß dieſes oder jenes dazu Gelegenheit gegeben.

Die letztern Stuͤcke ſo oben erwehnet worden, kan ein
Dichter mit gutem Fortgange brauchen. Ungewoͤhnliche
Witterungen, Donner und Blitz, Uberſchwemmungen,
Schiffbruͤche u. d. gl. ſind freylich ſehr wunderbar, wenn ſie
nur natuͤrlich beſchrieben werden. Das iſt aber die Kunſt!

Man
L 2
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[163/0191] Von dem Wunderbaren in der Poeſie. loſen oder unvernuͤnftigen Dingen redet, daß es recht wun- derbar klinget. Davon wird aber in dem Capitel von den verbluͤmten Ausdruͤckungen mehr vorkommen. Die Ovidianiſchen und Eſopiſchen Fabeln koͤnnten auch einigermaßen hieher gezogen werden, weil jene den Urſprung vieler Thiere und Blumen u. ſ. w. anzeigen, dieſe aber ſonſt viel wunderbares von ſolchen Geſchoͤpfen erzehlen. Allein weil hiervon ſchon oben gehandelt worden, ſo iſt eine Wie- derholung hier unnoͤthig. Die Geſtirne ſind endlich noch uͤbrig, von denen die Poe- ten auch viel ſeltſames und ungemeines zu erzehlen pflegen. Die Cometen, ſo ſich ſehen laſſen, haben bey ihnen gemei- niglich eine boͤſe Bedeutung, und einen wunderbaren Ein- fluß. Die Sonn- und Mond-Finſterniſſen werden ſehr ſchrecklich von den Alten beſchrieben, ja die Ungewitter, Erd- beben und Sturmwinde machen auch einen großen Theil des Wunderbaren in ihren Schrifften aus. Was die erſten Stuͤcke anlangt, ſo muß man freylich die Alten entſchuldi- gen, wenn ſie ſich aus den himmliſchen Zeichen zu viel gema- chet. Man verſtund dazumahl die Naturlehre ſehr ſchlecht: allein itzo wuͤrde es eine Schande vor den Poeten ſeyn, wenn er uns viel von dem Einfluſſe des Himmels reden wollte. Daher klingt die gewoͤhnliche Operſprache ſehr laͤcherlich, wenn es immer heißt, die Sterne, der Himmel, und ſeine Lichter haͤtten dieſes oder jenes gethan: Es waͤre denn, daß man darunter das Verhaͤngniß oder die Vorſehung verſte- hen koͤnnte. Die Leute in Geſtirne zu verwandeln geht heu- te zu Tage nicht mehr an, nachdem der gantze Himmel ſo ge- nau uͤberzehlt iſt, daß man keinen Stern finden kan, der nicht ſchon vorhin bekannt geweſen waͤre. Erſchiene aber irgend ein neuer Stern, ſo koͤnnte freylich ein Poet dichten, daß dieſes oder jenes dazu Gelegenheit gegeben. Die letztern Stuͤcke ſo oben erwehnet worden, kan ein Dichter mit gutem Fortgange brauchen. Ungewoͤhnliche Witterungen, Donner und Blitz, Uberſchwemmungen, Schiffbruͤche u. d. gl. ſind freylich ſehr wunderbar, wenn ſie nur natuͤrlich beſchrieben werden. Das iſt aber die Kunſt! Man L 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/191>, abgerufen am 21.11.2024.