Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Das V. Capitel einem bekannten Lande keinem glaublich vorkämen. DieRabbinen und Mahometaner beschreiben solche große Vö- gel und Fische, daß man ihre lächerliche Phantasie mehr als die Misgeburten derselben bewundert. Aus weit entlege- nen Ländern läst sich zuweilen was wunderbares entlehnen: man muß aber wohl zusehen, daß man nichts fabelhafftes mit einstreue, so unglaublich ist. Siam und Perou, Cey- lon und Japan ist schon mit solchen lügenhafften Wundern angefüllet worden, daß die Einwohner dieser Länder große Ursache hätten, uns mit den Chinesern vor einäugigte zu hal- ten, weil wir solche Narrenpossen von ihren Ländern schrei- ben und glauben. Das beste und vernünftigste Wunder- bare ist, wenn man auch bey Thieren und leblosen Dingen nur die Wunder der Natur recht nachahmet, und allezeit dasjenige wehlt, was die Natur am vortrefflichsten gemacht hat. Es kommt hier alles auf gute Beschreibungen recht außerordentlich schöner und schlechter Sachen an, denn die mittelmäßigen werden nichts wunderwürdiges abgeben. Beschreibet man eine Gegend, einen Garten, ein Gebäude, einen Wald, einen Berg, eine Höle, eine Heerde Vieh, eine Jagd u. d. m. So muß dieses alles nach der Absicht des Poeten in seiner Vollkommenheit geschildert werden. Nur die edelsten Dinge muß man der Phantasie des Lesers vor- mahlen, um dieselbe zu gewinnen. Deswegen aber will ich nicht sagen, daß ein Poet immer mit Gold und Perlen, Ru- binen und Diamanten um sich werfen; lauter Adler und Löwen, Panther und Tyger bey sich führen, lauter Jesmin und Zibeth streuen, lauter Ambrosin und Nectar auftra- gen, oder sonst alle Kostbarkeiten Jndiens verschwenden solle. Diesen Mißbrauch hat der Herr Geh. Secr. König in seiner verkehrten Welt schon zu Spott gemacht, indem er erzehlen läst, es wäre in der andern Welt ein Poet, der die- se theuren Sachen so unbedachtsam verschleudert, ins Toll- haus gebracht worden: weil man ihn vor unsinnig gehalten hätte. Zuweilen treibt man in Oden und Heldengedichten die losen
Das V. Capitel einem bekannten Lande keinem glaublich vorkaͤmen. DieRabbinen und Mahometaner beſchreiben ſolche große Voͤ- gel und Fiſche, daß man ihre laͤcherliche Phantaſie mehr als die Misgeburten derſelben bewundert. Aus weit entlege- nen Laͤndern laͤſt ſich zuweilen was wunderbares entlehnen: man muß aber wohl zuſehen, daß man nichts fabelhafftes mit einſtreue, ſo unglaublich iſt. Siam und Perou, Cey- lon und Japan iſt ſchon mit ſolchen luͤgenhafften Wundern angefuͤllet worden, daß die Einwohner dieſer Laͤnder große Urſache haͤtten, uns mit den Chineſern vor einaͤugigte zu hal- ten, weil wir ſolche Narrenpoſſen von ihren Laͤndern ſchrei- ben und glauben. Das beſte und vernuͤnftigſte Wunder- bare iſt, wenn man auch bey Thieren und lebloſen Dingen nur die Wunder der Natur recht nachahmet, und allezeit dasjenige wehlt, was die Natur am vortrefflichſten gemacht hat. Es kommt hier alles auf gute Beſchreibungen recht außerordentlich ſchoͤner und ſchlechter Sachen an, denn die mittelmaͤßigen werden nichts wunderwuͤrdiges abgeben. Beſchreibet man eine Gegend, einen Garten, ein Gebaͤude, einen Wald, einen Berg, eine Hoͤle, eine Heerde Vieh, eine Jagd u. d. m. So muß dieſes alles nach der Abſicht des Poeten in ſeiner Vollkommenheit geſchildert werden. Nur die edelſten Dinge muß man der Phantaſie des Leſers vor- mahlen, um dieſelbe zu gewinnen. Deswegen aber will ich nicht ſagen, daß ein Poet immer mit Gold und Perlen, Ru- binen und Diamanten um ſich werfen; lauter Adler und Loͤwen, Panther und Tyger bey ſich fuͤhren, lauter Jeſmin und Zibeth ſtreuen, lauter Ambroſin und Nectar auftra- gen, oder ſonſt alle Koſtbarkeiten Jndiens verſchwenden ſolle. Dieſen Mißbrauch hat der Herr Geh. Secr. Koͤnig in ſeiner verkehrten Welt ſchon zu Spott gemacht, indem er erzehlen laͤſt, es waͤre in der andern Welt ein Poet, der die- ſe theuren Sachen ſo unbedachtſam verſchleudert, ins Toll- haus gebracht worden: weil man ihn vor unſinnig gehalten haͤtte. Zuweilen treibt man in Oden und Heldengedichten die loſen
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0190" n="162"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">V.</hi> Capitel</hi></fw><lb/> einem bekannten Lande keinem glaublich vorkaͤmen. Die<lb/> Rabbinen und Mahometaner beſchreiben ſolche große Voͤ-<lb/> gel und Fiſche, daß man ihre laͤcherliche Phantaſie mehr als<lb/> die Misgeburten derſelben bewundert. Aus weit entlege-<lb/> nen Laͤndern laͤſt ſich zuweilen was wunderbares entlehnen:<lb/> man muß aber wohl zuſehen, daß man nichts fabelhafftes<lb/> mit einſtreue, ſo unglaublich iſt. Siam und Perou, Cey-<lb/> lon und Japan iſt ſchon mit ſolchen luͤgenhafften Wundern<lb/> angefuͤllet worden, daß die Einwohner dieſer Laͤnder große<lb/> Urſache haͤtten, uns mit den Chineſern vor einaͤugigte zu hal-<lb/> ten, weil wir ſolche Narrenpoſſen von ihren Laͤndern ſchrei-<lb/> ben und glauben. Das beſte und vernuͤnftigſte Wunder-<lb/> bare iſt, wenn man auch bey Thieren und lebloſen Dingen<lb/> nur die Wunder der Natur recht nachahmet, und allezeit<lb/> dasjenige wehlt, was die Natur am vortrefflichſten gemacht<lb/> hat. Es kommt hier alles auf gute Beſchreibungen recht<lb/> außerordentlich ſchoͤner und ſchlechter Sachen an, denn die<lb/> mittelmaͤßigen werden nichts wunderwuͤrdiges abgeben.<lb/> Beſchreibet man eine Gegend, einen Garten, ein Gebaͤude,<lb/> einen Wald, einen Berg, eine Hoͤle, eine Heerde Vieh,<lb/> eine Jagd u. d. m. So muß dieſes alles nach der Abſicht des<lb/> Poeten in ſeiner Vollkommenheit geſchildert werden. Nur<lb/> die edelſten Dinge muß man der Phantaſie des Leſers vor-<lb/> mahlen, um dieſelbe zu gewinnen. Deswegen aber will ich<lb/> nicht ſagen, daß ein Poet immer mit Gold und Perlen, Ru-<lb/> binen und Diamanten um ſich werfen; lauter Adler und<lb/> Loͤwen, Panther und Tyger bey ſich fuͤhren, lauter Jeſmin<lb/> und Zibeth ſtreuen, lauter Ambroſin und Nectar auftra-<lb/> gen, oder ſonſt alle Koſtbarkeiten Jndiens verſchwenden<lb/> ſolle. Dieſen Mißbrauch hat der Herr Geh. Secr. Koͤnig<lb/> in ſeiner verkehrten Welt ſchon zu Spott gemacht, indem er<lb/> erzehlen laͤſt, es waͤre in der andern Welt ein Poet, der die-<lb/> ſe theuren Sachen ſo unbedachtſam verſchleudert, ins Toll-<lb/> haus gebracht worden: weil man ihn vor unſinnig gehalten<lb/> haͤtte.</p><lb/> <p>Zuweilen treibt man in Oden und Heldengedichten die<lb/> Hyperboliſchen Ausdruͤckungen ſo hoch, indem man von leb-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">loſen</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [162/0190]
Das V. Capitel
einem bekannten Lande keinem glaublich vorkaͤmen. Die
Rabbinen und Mahometaner beſchreiben ſolche große Voͤ-
gel und Fiſche, daß man ihre laͤcherliche Phantaſie mehr als
die Misgeburten derſelben bewundert. Aus weit entlege-
nen Laͤndern laͤſt ſich zuweilen was wunderbares entlehnen:
man muß aber wohl zuſehen, daß man nichts fabelhafftes
mit einſtreue, ſo unglaublich iſt. Siam und Perou, Cey-
lon und Japan iſt ſchon mit ſolchen luͤgenhafften Wundern
angefuͤllet worden, daß die Einwohner dieſer Laͤnder große
Urſache haͤtten, uns mit den Chineſern vor einaͤugigte zu hal-
ten, weil wir ſolche Narrenpoſſen von ihren Laͤndern ſchrei-
ben und glauben. Das beſte und vernuͤnftigſte Wunder-
bare iſt, wenn man auch bey Thieren und lebloſen Dingen
nur die Wunder der Natur recht nachahmet, und allezeit
dasjenige wehlt, was die Natur am vortrefflichſten gemacht
hat. Es kommt hier alles auf gute Beſchreibungen recht
außerordentlich ſchoͤner und ſchlechter Sachen an, denn die
mittelmaͤßigen werden nichts wunderwuͤrdiges abgeben.
Beſchreibet man eine Gegend, einen Garten, ein Gebaͤude,
einen Wald, einen Berg, eine Hoͤle, eine Heerde Vieh,
eine Jagd u. d. m. So muß dieſes alles nach der Abſicht des
Poeten in ſeiner Vollkommenheit geſchildert werden. Nur
die edelſten Dinge muß man der Phantaſie des Leſers vor-
mahlen, um dieſelbe zu gewinnen. Deswegen aber will ich
nicht ſagen, daß ein Poet immer mit Gold und Perlen, Ru-
binen und Diamanten um ſich werfen; lauter Adler und
Loͤwen, Panther und Tyger bey ſich fuͤhren, lauter Jeſmin
und Zibeth ſtreuen, lauter Ambroſin und Nectar auftra-
gen, oder ſonſt alle Koſtbarkeiten Jndiens verſchwenden
ſolle. Dieſen Mißbrauch hat der Herr Geh. Secr. Koͤnig
in ſeiner verkehrten Welt ſchon zu Spott gemacht, indem er
erzehlen laͤſt, es waͤre in der andern Welt ein Poet, der die-
ſe theuren Sachen ſo unbedachtſam verſchleudert, ins Toll-
haus gebracht worden: weil man ihn vor unſinnig gehalten
haͤtte.
Zuweilen treibt man in Oden und Heldengedichten die
Hyperboliſchen Ausdruͤckungen ſo hoch, indem man von leb-
loſen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |