Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Vorrede. Sie durchforschen die verborgensten Schlupfwinckel ei-ner Schrifft, sie sey von welcher Art sie wolle. Und da bleibt vor ihren scharfsichtigen Augen nichts verstecket. Werden sie offt Schönheiten gewahr, die andre nicht se- hen: So entdecken sie auch offt Fehler wieder die Re- geln der freyen Künste, die nicht ein jeder so gleich wahr- nimmt, der solch ein Werck ohne eine tiefere philosophische Einsicht in die Natur desselben, nur obenhin angesehen. Da nun in dem letzten Falle die Leser den Criticis viel Danck schuldig sind, welche sie vor solchen gläntzenden Narben, und scheinbaren Unvollkommenheiten der Schrifften gewarnet: So haben im ersten Falle die Scri- benten selbst Ursache, sie hochzuschätzen und zu verehren; weil die unsichtbaren Schönheiten ihrer Wercke, durch ihren Dienst mehr und mehr ans Licht gebracht werden. Wenn also diese Letztere ein gut Gewissen haben, daß nehmlich ihre Sachen nach den wahren Kunstregeln aus- gearbeitet worden; so werden sie keine Feindschafft gegen die Criticos blicken lassen: Wiedrigen falls aber müssen sie es nicht übel nehmen, wenn diese gerechte Kunstrichter mehr auf die gantze gelehrte Welt, als auf einzelne, und zwar schlechte Schrifftsteller sehen; und zum wenigsten angehende Scribenten vor den Abwegen warnen, darauf sich ihre Vorgänger entweder aus Unachtsamkeit, oder aus andern Ursachen verirret haben. Nunmehro wäre wohl nichts besser vor mich; als be-
Vorrede. Sie durchforſchen die verborgenſten Schlupfwinckel ei-ner Schrifft, ſie ſey von welcher Art ſie wolle. Und da bleibt vor ihren ſcharfſichtigen Augen nichts verſtecket. Werden ſie offt Schoͤnheiten gewahr, die andre nicht ſe- hen: So entdecken ſie auch offt Fehler wieder die Re- geln der freyen Kuͤnſte, die nicht ein jeder ſo gleich wahr- nimmt, der ſolch ein Werck ohne eine tiefere philoſophiſche Einſicht in die Natur deſſelben, nur obenhin angeſehen. Da nun in dem letzten Falle die Leſer den Criticis viel Danck ſchuldig ſind, welche ſie vor ſolchen glaͤntzenden Narben, und ſcheinbaren Unvollkommenheiten der Schrifften gewarnet: So haben im erſten Falle die Scri- benten ſelbſt Urſache, ſie hochzuſchaͤtzen und zu verehren; weil die unſichtbaren Schoͤnheiten ihrer Wercke, durch ihren Dienſt mehr und mehr ans Licht gebracht werden. Wenn alſo dieſe Letztere ein gut Gewiſſen haben, daß nehmlich ihre Sachen nach den wahren Kunſtregeln aus- gearbeitet worden; ſo werden ſie keine Feindſchafft gegen die Criticos blicken laſſen: Wiedrigen falls aber muͤſſen ſie es nicht uͤbel nehmen, wenn dieſe gerechte Kunſtrichter mehr auf die gantze gelehrte Welt, als auf einzelne, und zwar ſchlechte Schrifftſteller ſehen; und zum wenigſten angehende Scribenten vor den Abwegen warnen, darauf ſich ihre Vorgaͤnger entweder aus Unachtſamkeit, oder aus andern Urſachen verirret haben. Nunmehro waͤre wohl nichts beſſer vor mich; als be-
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Vorrede.
Sie durchforſchen die verborgenſten Schlupfwinckel ei-
ner Schrifft, ſie ſey von welcher Art ſie wolle. Und da
bleibt vor ihren ſcharfſichtigen Augen nichts verſtecket.
Werden ſie offt Schoͤnheiten gewahr, die andre nicht ſe-
hen: So entdecken ſie auch offt Fehler wieder die Re-
geln der freyen Kuͤnſte, die nicht ein jeder ſo gleich wahr-
nimmt, der ſolch ein Werck ohne eine tiefere philoſophiſche
Einſicht in die Natur deſſelben, nur obenhin angeſehen.
Da nun in dem letzten Falle die Leſer den Criticis viel
Danck ſchuldig ſind, welche ſie vor ſolchen glaͤntzenden
Narben, und ſcheinbaren Unvollkommenheiten der
Schrifften gewarnet: So haben im erſten Falle die Scri-
benten ſelbſt Urſache, ſie hochzuſchaͤtzen und zu verehren;
weil die unſichtbaren Schoͤnheiten ihrer Wercke, durch
ihren Dienſt mehr und mehr ans Licht gebracht werden.
Wenn alſo dieſe Letztere ein gut Gewiſſen haben, daß
nehmlich ihre Sachen nach den wahren Kunſtregeln aus-
gearbeitet worden; ſo werden ſie keine Feindſchafft gegen
die Criticos blicken laſſen: Wiedrigen falls aber muͤſſen
ſie es nicht uͤbel nehmen, wenn dieſe gerechte Kunſtrichter
mehr auf die gantze gelehrte Welt, als auf einzelne, und
zwar ſchlechte Schrifftſteller ſehen; und zum wenigſten
angehende Scribenten vor den Abwegen warnen, darauf
ſich ihre Vorgaͤnger entweder aus Unachtſamkeit, oder
aus andern Urſachen verirret haben.
Nunmehro waͤre wohl nichts beſſer vor mich; als
wenn ich mich ruͤhmen koͤnnte, ein ſolcher Criticus zu ſeyn,
oder wenn ich allbereit bey unſern Deutſchen in dem An-
ſehen ſtuͤnde. Allein da dieſes nicht iſt: ſo hat man frey-
lich Urſache zu fragen: Ob ich denn eben derjenige ſey, der
ſich zum Verfaſſer einer Critiſchen Dicht-Kunſt haͤtte
aufwerfen muͤſſen? Dieſer Frage, ſo gut als ich kan, zu
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