menheit nicht eingesehen, so wird sie doch fähig seyn, durch eine zärtliche Empfindung wahrzunehmen, ob dieselben in einem Gedichte, Gedancken, oder Ausputze desselben beobachtet worden oder nicht.
Man hat endlich auch gefragt: Ob ein Scribent sich nicht vielmehr dem Geschmacke seiner Zeiten, seines Ortes, oder des Hofes; als den Regeln der Kunst, zu bequemen Ursache habe? Man meynt nehmlich, die ersten Regeln der freyen Künste, wären doch nur nach dem Geschmacke des Athenien- sischen Volckes entworfen, indem sich die Critici darinn auf diejenigen Meisterstücke beruffen und gegründet, die den all- gemeinen Beyfall erhalten hatten. Warum sollen wir denn, spricht man, unsern Kopf nach dem Atheniensischen Eigen- sinne richten? Warum sollen wir heutiges Tages nicht das Recht haben, das vor schön zu halten, was uns gefällt; sondern dasjenige, was den alten Griechen vor zwey tausend Jahren gefallen hat.
Der Einwurf scheint wichtig zu seyn, weil er unsrer Eigenliebe schmeichelt. Er würde auch unauflößlich seyn, weun es ein bloßer Eigensinn wäre, der eine Sache vor schön erklärete. Hätten ferner die Athenienser weiter nichts zum voraus vor uns, und wären wir ihnen in allen Stücken gleich: so könnten wir uns ihnen mit Recht wiedersetzen. Allein beydes verhält sich gantz anders. Die Schönheit eines künstlichen Werckes beruht nicht auf einem leeren Dünckel; sondern hat ihren festen und nothwendigen Grund in der Na- tur der Dinge. GOtt hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind schön; und wenn also die Kunst auch was schönes hervor bringen will, muß sie dem Muster der Natur nachahmen. Das genaue Ver- hältniß, die Ordnung und richtige Abmessung aller Theile daraus ein Ding besteht, ist die Quelle aller Schönheit. Die Nachahmung der Natur, kan also einem künstlichen Wercke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Ver- stande gefällig und angenehm wird.
Man versuche es doch, und berede einen Baumeister, Mahler oder Musicverständigen einmahl, daß seine Archi-
tectoni-
Das III. Capitel
menheit nicht eingeſehen, ſo wird ſie doch faͤhig ſeyn, durch eine zaͤrtliche Empfindung wahrzunehmen, ob dieſelben in einem Gedichte, Gedancken, oder Ausputze deſſelben beobachtet worden oder nicht.
Man hat endlich auch gefragt: Ob ein Scribent ſich nicht vielmehr dem Geſchmacke ſeiner Zeiten, ſeines Ortes, oder des Hofes; als den Regeln der Kunſt, zu bequemen Urſache habe? Man meynt nehmlich, die erſten Regeln der freyen Kuͤnſte, waͤren doch nur nach dem Geſchmacke des Athenien- ſiſchen Volckes entworfen, indem ſich die Critici darinn auf diejenigen Meiſterſtuͤcke beruffen und gegruͤndet, die den all- gemeinen Beyfall erhalten hatten. Warum ſollen wir denn, ſpricht man, unſern Kopf nach dem Athenienſiſchen Eigen- ſinne richten? Warum ſollen wir heutiges Tages nicht das Recht haben, das vor ſchoͤn zu halten, was uns gefaͤllt; ſondern dasjenige, was den alten Griechen vor zwey tauſend Jahren gefallen hat.
Der Einwurf ſcheint wichtig zu ſeyn, weil er unſrer Eigenliebe ſchmeichelt. Er wuͤrde auch unaufloͤßlich ſeyn, weun es ein bloßer Eigenſinn waͤre, der eine Sache vor ſchoͤn erklaͤrete. Haͤtten ferner die Athenienſer weiter nichts zum voraus vor uns, und waͤren wir ihnen in allen Stuͤcken gleich: ſo koͤnnten wir uns ihnen mit Recht wiederſetzen. Allein beydes verhaͤlt ſich gantz anders. Die Schoͤnheit eines kuͤnſtlichen Werckes beruht nicht auf einem leeren Duͤnckel; ſondern hat ihren feſten und nothwendigen Grund in der Na- tur der Dinge. GOtt hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geſchaffen. Die natuͤrlichen Dinge ſind ſchoͤn; und wenn alſo die Kunſt auch was ſchoͤnes hervor bringen will, muß ſie dem Muſter der Natur nachahmen. Das genaue Ver- haͤltniß, die Ordnung und richtige Abmeſſung aller Theile daraus ein Ding beſteht, iſt die Quelle aller Schoͤnheit. Die Nachahmung der Natur, kan alſo einem kuͤnſtlichen Wercke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Ver- ſtande gefaͤllig und angenehm wird.
Man verſuche es doch, und berede einen Baumeiſter, Mahler oder Muſicverſtaͤndigen einmahl, daß ſeine Archi-
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Das III. Capitel
menheit nicht eingeſehen, ſo wird ſie doch faͤhig ſeyn, durch eine
zaͤrtliche Empfindung wahrzunehmen, ob dieſelben in einem
Gedichte, Gedancken, oder Ausputze deſſelben beobachtet
worden oder nicht.
Man hat endlich auch gefragt: Ob ein Scribent ſich nicht
vielmehr dem Geſchmacke ſeiner Zeiten, ſeines Ortes, oder
des Hofes; als den Regeln der Kunſt, zu bequemen Urſache
habe? Man meynt nehmlich, die erſten Regeln der freyen
Kuͤnſte, waͤren doch nur nach dem Geſchmacke des Athenien-
ſiſchen Volckes entworfen, indem ſich die Critici darinn auf
diejenigen Meiſterſtuͤcke beruffen und gegruͤndet, die den all-
gemeinen Beyfall erhalten hatten. Warum ſollen wir denn,
ſpricht man, unſern Kopf nach dem Athenienſiſchen Eigen-
ſinne richten? Warum ſollen wir heutiges Tages nicht das
Recht haben, das vor ſchoͤn zu halten, was uns gefaͤllt; ſondern
dasjenige, was den alten Griechen vor zwey tauſend Jahren
gefallen hat.
Der Einwurf ſcheint wichtig zu ſeyn, weil er unſrer
Eigenliebe ſchmeichelt. Er wuͤrde auch unaufloͤßlich ſeyn,
weun es ein bloßer Eigenſinn waͤre, der eine Sache vor ſchoͤn
erklaͤrete. Haͤtten ferner die Athenienſer weiter nichts zum
voraus vor uns, und waͤren wir ihnen in allen Stuͤcken gleich:
ſo koͤnnten wir uns ihnen mit Recht wiederſetzen. Allein
beydes verhaͤlt ſich gantz anders. Die Schoͤnheit eines
kuͤnſtlichen Werckes beruht nicht auf einem leeren Duͤnckel;
ſondern hat ihren feſten und nothwendigen Grund in der Na-
tur der Dinge. GOtt hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht
geſchaffen. Die natuͤrlichen Dinge ſind ſchoͤn; und wenn
alſo die Kunſt auch was ſchoͤnes hervor bringen will, muß ſie
dem Muſter der Natur nachahmen. Das genaue Ver-
haͤltniß, die Ordnung und richtige Abmeſſung aller Theile
daraus ein Ding beſteht, iſt die Quelle aller Schoͤnheit.
Die Nachahmung der Natur, kan alſo einem kuͤnſtlichen
Wercke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Ver-
ſtande gefaͤllig und angenehm wird.
Man verſuche es doch, und berede einen Baumeiſter,
Mahler oder Muſicverſtaͤndigen einmahl, daß ſeine Archi-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/138>, abgerufen am 24.11.2024.
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