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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das II. Cap. Von dem Charactere etc.
ein alter König der Deutschen befohlen, auf die Lasterhafften
gewisse satirische Lieder zu machen; ist in dem vorigen Capitel
erinnert worden. Und also ist es gewiß, daß man die wahre
Satire mit gottlosen Pasquillen oder Lästerschrifften nicht zu
vermischen habe. Jene ist die Seele aller Comödien, die doch
in so vielen wohlbestellten Republicken nicht ohne grossen
Nutzen gedultet, ja auf gemeine Kosten gespielet worden:
Diese aber eine Stiffterin unzehliches Unheils, weswegen
sie auch durch die Gesetze der Obrigkeit allezeit verboten und
scharf bestrafet worden. Rachelius hat im Schlusse seiner
Satire vom Poeten, beyde sehr wohl unterschieden, welche
Stelle ich hersetzen, und dadurch dieß Capitel beschliessen will.

Zuweilen sitzet er, hält der Vernunft entgegen
Die Laster seiner Zeit, die irgend sich erregen,
Schont aller Menschen zwar, doch keiner Thorheit nicht;
Und ob sein Urtheil selbst ihm ins Gewissen spricht,
So schweigt er mit Gedult, beseufzt die bösen Thaten,
So kan die Wahrheit ihm zum höchsten Heyl gerathen.
Jst dieser Eßig scharf, so ist er doch gesund,
Und beist das faule Fleisch heraus bis auf den Grund.
Gleichwie Machaon brennt und heilt mit klugen Händen;
So mag auch ein Poet zwar strafen, doch nicht schänden.
Und wer denn solchen Mann zu den Verläumdern schreibt,
Der wisse, daß ihn selbst der Ertzverläumder treibt.
Es ist Poeten-Werck, mit fremden Nahmen spielen,
Und dergestalt mit Glimpf auf wahre Laster zielen.
Nimmt aber jemand selbst sich solcher Laster an;
Wer ist in aller Welt der solches ändern kan?
Hat jemand Codrus Art, der mag den Nahmen erben:
Wer Hirsenpfriemer ist, mag Hirsenpfriemer sterben.
Wenn beym Horatius einmahl geschrieben steht:
Gorgon stinckt wie ein Bock, Ruffin riecht nach Zibeth;
Da kan es ja gleich viel dem guten Dichter gelten,
Wer will, mag sich Gorgon, wer will, Ruffinus schelten.
Ein Frommer eifert nicht, sein Hertz das spricht ihn loß;
Wer schuldig ist der schreyt, und giebt sich selber bloß,
Wen sein Gewissen beist, mag seine Thorheit hassen.
Hab ich den Geck erzürnt? ich kan es noch nicht lassen.
Jch biete Recht und Trutz, dem der mir solches wehrt;
Wer Laster straft, der hat die Tugend recht gelehrt.
Das

Das II. Cap. Von dem Charactere ꝛc.
ein alter Koͤnig der Deutſchen befohlen, auf die Laſterhafften
gewiſſe ſatiriſche Lieder zu machen; iſt in dem vorigen Capitel
erinnert worden. Und alſo iſt es gewiß, daß man die wahre
Satire mit gottloſen Pasquillen oder Laͤſterſchrifften nicht zu
vermiſchen habe. Jene iſt die Seele aller Comoͤdien, die doch
in ſo vielen wohlbeſtellten Republicken nicht ohne groſſen
Nutzen gedultet, ja auf gemeine Koſten geſpielet worden:
Dieſe aber eine Stiffterin unzehliches Unheils, weswegen
ſie auch durch die Geſetze der Obrigkeit allezeit verboten und
ſcharf beſtrafet worden. Rachelius hat im Schluſſe ſeiner
Satire vom Poeten, beyde ſehr wohl unterſchieden, welche
Stelle ich herſetzen, und dadurch dieß Capitel beſchlieſſen will.

Zuweilen ſitzet er, haͤlt der Vernunft entgegen
Die Laſter ſeiner Zeit, die irgend ſich erregen,
Schont aller Menſchen zwar, doch keiner Thorheit nicht;
Und ob ſein Urtheil ſelbſt ihm ins Gewiſſen ſpricht,
So ſchweigt er mit Gedult, beſeufzt die boͤſen Thaten,
So kan die Wahrheit ihm zum hoͤchſten Heyl gerathen.
Jſt dieſer Eßig ſcharf, ſo iſt er doch geſund,
Und beiſt das faule Fleiſch heraus bis auf den Grund.
Gleichwie Machaon brennt und heilt mit klugen Haͤnden;
So mag auch ein Poet zwar ſtrafen, doch nicht ſchaͤnden.
Und wer denn ſolchen Mann zu den Verlaͤumdern ſchreibt,
Der wiſſe, daß ihn ſelbſt der Ertzverlaͤumder treibt.
Es iſt Poeten-Werck, mit fremden Nahmen ſpielen,
Und dergeſtalt mit Glimpf auf wahre Laſter zielen.
Nimmt aber jemand ſelbſt ſich ſolcher Laſter an;
Wer iſt in aller Welt der ſolches aͤndern kan?
Hat jemand Codrus Art, der mag den Nahmen erben:
Wer Hirſenpfriemer iſt, mag Hirſenpfriemer ſterben.
Wenn beym Horatius einmahl geſchrieben ſteht:
Gorgon ſtinckt wie ein Bock, Ruffin riecht nach Zibeth;
Da kan es ja gleich viel dem guten Dichter gelten,
Wer will, mag ſich Gorgon, wer will, Ruffinus ſchelten.
Ein Frommer eifert nicht, ſein Hertz das ſpricht ihn loß;
Wer ſchuldig iſt der ſchreyt, und giebt ſich ſelber bloß,
Wen ſein Gewiſſen beiſt, mag ſeine Thorheit haſſen.
Hab ich den Geck erzuͤrnt? ich kan es noch nicht laſſen.
Jch biete Recht und Trutz, dem der mir ſolches wehrt;
Wer Laſter ſtraft, der hat die Tugend recht gelehrt.
Das
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[98/0126] Das II. Cap. Von dem Charactere ꝛc. ein alter Koͤnig der Deutſchen befohlen, auf die Laſterhafften gewiſſe ſatiriſche Lieder zu machen; iſt in dem vorigen Capitel erinnert worden. Und alſo iſt es gewiß, daß man die wahre Satire mit gottloſen Pasquillen oder Laͤſterſchrifften nicht zu vermiſchen habe. Jene iſt die Seele aller Comoͤdien, die doch in ſo vielen wohlbeſtellten Republicken nicht ohne groſſen Nutzen gedultet, ja auf gemeine Koſten geſpielet worden: Dieſe aber eine Stiffterin unzehliches Unheils, weswegen ſie auch durch die Geſetze der Obrigkeit allezeit verboten und ſcharf beſtrafet worden. Rachelius hat im Schluſſe ſeiner Satire vom Poeten, beyde ſehr wohl unterſchieden, welche Stelle ich herſetzen, und dadurch dieß Capitel beſchlieſſen will. Zuweilen ſitzet er, haͤlt der Vernunft entgegen Die Laſter ſeiner Zeit, die irgend ſich erregen, Schont aller Menſchen zwar, doch keiner Thorheit nicht; Und ob ſein Urtheil ſelbſt ihm ins Gewiſſen ſpricht, So ſchweigt er mit Gedult, beſeufzt die boͤſen Thaten, So kan die Wahrheit ihm zum hoͤchſten Heyl gerathen. Jſt dieſer Eßig ſcharf, ſo iſt er doch geſund, Und beiſt das faule Fleiſch heraus bis auf den Grund. Gleichwie Machaon brennt und heilt mit klugen Haͤnden; So mag auch ein Poet zwar ſtrafen, doch nicht ſchaͤnden. Und wer denn ſolchen Mann zu den Verlaͤumdern ſchreibt, Der wiſſe, daß ihn ſelbſt der Ertzverlaͤumder treibt. Es iſt Poeten-Werck, mit fremden Nahmen ſpielen, Und dergeſtalt mit Glimpf auf wahre Laſter zielen. Nimmt aber jemand ſelbſt ſich ſolcher Laſter an; Wer iſt in aller Welt der ſolches aͤndern kan? Hat jemand Codrus Art, der mag den Nahmen erben: Wer Hirſenpfriemer iſt, mag Hirſenpfriemer ſterben. Wenn beym Horatius einmahl geſchrieben ſteht: Gorgon ſtinckt wie ein Bock, Ruffin riecht nach Zibeth; Da kan es ja gleich viel dem guten Dichter gelten, Wer will, mag ſich Gorgon, wer will, Ruffinus ſchelten. Ein Frommer eifert nicht, ſein Hertz das ſpricht ihn loß; Wer ſchuldig iſt der ſchreyt, und giebt ſich ſelber bloß, Wen ſein Gewiſſen beiſt, mag ſeine Thorheit haſſen. Hab ich den Geck erzuͤrnt? ich kan es noch nicht laſſen. Jch biete Recht und Trutz, dem der mir ſolches wehrt; Wer Laſter ſtraft, der hat die Tugend recht gelehrt. Das

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/126>, abgerufen am 29.03.2024.