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Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Rostock, 1736.

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Die Pietisterey
Jungfer Luischen.
Zwey Jahre bin ich schon dem Herrn Liebmann
verlobt; gleichwohl habe ich kaum die Erlaubniß
ihn zu sprechen. Jch sehe niemanden, als allerley
Arten von Heuchlern, Canditaten, Magisters,
und lächerliche Beth-Schwestern. Zu Hause
schwatzt man von lauter Orthodoxen und Ketzerma-
chern; gehe ich aus, so muß ich eben wieder solch
Zeug anhören. Du weist, daß ich der Mama zu
gefallen Speners Predigten von der Wiedergeburt,
und so viel anderes Zeug, gantz auswendig gelernet
habe. Jch habe mich bisher gestellt, als wenn
ich mit ihr einer Meinung wäre; damit ich sie nur
gewinnen möchte: Aber nun bin ichs auch über-
drüßig. Jch kanns nicht länger aushalten! Und
wo mein Vater nach seiner langen Abwesenheit
nicht bald wieder kömmt, und allen diesen Verwir-
rungen ein Ende macht; so - - -
Cathrine.
O ja doch! Sie ist gewiß von den Leuten, die
was rechts unternehmen. Sie hat ja nicht das
Hertze der Mama ein Wort zu sagen.
Jungfer Luischen.
Es ist wahr! Aber nun habe ich mir es vorge-
setzt: Jch will nicht länger heucheln! Jch will ihr
meine Meinung sagen, und wanns noch heute wäre.
Cathrine.
Jch muß gestehen, daß ihr Herr Vater sehr un-
billig
Die Pietiſterey
Jungfer Luischen.
Zwey Jahre bin ich ſchon dem Herrn Liebmann
verlobt; gleichwohl habe ich kaum die Erlaubniß
ihn zu ſprechen. Jch ſehe niemanden, als allerley
Arten von Heuchlern, Canditaten, Magiſters,
und laͤcherliche Beth-Schweſtern. Zu Hauſe
ſchwatzt man von lauter Orthodoxen und Ketzerma-
chern; gehe ich aus, ſo muß ich eben wieder ſolch
Zeug anhoͤren. Du weiſt, daß ich der Mama zu
gefallen Speners Predigten von der Wiedergeburt,
und ſo viel anderes Zeug, gantz auswendig gelernet
habe. Jch habe mich bisher geſtellt, als wenn
ich mit ihr einer Meinung waͤre; damit ich ſie nur
gewinnen moͤchte: Aber nun bin ichs auch uͤber-
druͤßig. Jch kanns nicht laͤnger aushalten! Und
wo mein Vater nach ſeiner langen Abweſenheit
nicht bald wieder koͤmmt, und allen dieſen Verwir-
rungen ein Ende macht; ſo ‒ ‒ ‒
Cathrine.
O ja doch! Sie iſt gewiß von den Leuten, die
was rechts unternehmen. Sie hat ja nicht das
Hertze der Mama ein Wort zu ſagen.
Jungfer Luischen.
Es iſt wahr! Aber nun habe ich mir es vorge-
ſetzt: Jch will nicht laͤnger heucheln! Jch will ihr
meine Meinung ſagen, und wanns noch heute waͤre.
Cathrine.
Jch muß geſtehen, daß ihr Herr Vater ſehr un-
billig
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[4/0024] Die Pietiſterey Jungfer Luischen. Zwey Jahre bin ich ſchon dem Herrn Liebmann verlobt; gleichwohl habe ich kaum die Erlaubniß ihn zu ſprechen. Jch ſehe niemanden, als allerley Arten von Heuchlern, Canditaten, Magiſters, und laͤcherliche Beth-Schweſtern. Zu Hauſe ſchwatzt man von lauter Orthodoxen und Ketzerma- chern; gehe ich aus, ſo muß ich eben wieder ſolch Zeug anhoͤren. Du weiſt, daß ich der Mama zu gefallen Speners Predigten von der Wiedergeburt, und ſo viel anderes Zeug, gantz auswendig gelernet habe. Jch habe mich bisher geſtellt, als wenn ich mit ihr einer Meinung waͤre; damit ich ſie nur gewinnen moͤchte: Aber nun bin ichs auch uͤber- druͤßig. Jch kanns nicht laͤnger aushalten! Und wo mein Vater nach ſeiner langen Abweſenheit nicht bald wieder koͤmmt, und allen dieſen Verwir- rungen ein Ende macht; ſo ‒ ‒ ‒ Cathrine. O ja doch! Sie iſt gewiß von den Leuten, die was rechts unternehmen. Sie hat ja nicht das Hertze der Mama ein Wort zu ſagen. Jungfer Luischen. Es iſt wahr! Aber nun habe ich mir es vorge- ſetzt: Jch will nicht laͤnger heucheln! Jch will ihr meine Meinung ſagen, und wanns noch heute waͤre. Cathrine. Jch muß geſtehen, daß ihr Herr Vater ſehr un- billig

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Zitationshilfe: Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Rostock, 1736, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_pietisterey_1736/24>, abgerufen am 23.11.2024.