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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Geibel in der "Sonnenblume" die einsamplatonische Liebe und ich pgo_072.002
selbst in "Passionsblume und Parnassia*)" den Gegensatz zweier Weltanschauungen pgo_072.003
darstelle.

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Die Thierwelt in ihrer eigenen freien Bewegung und ihrer pgo_072.005
Beziehung zum Menschen bietet der dichterischen Muse reicheren Stoff, pgo_072.006
wenn auch hier, lebensvollen Wesen gegenüber, die Personification aufhört, pgo_072.007
und das sinnig Träumerische des Pflanzenlebens in diesem schärfer pgo_072.008
ausgeprägten organischen Proceß keine Stelle findet. Doch von Homer's pgo_072.009
Rossen und Don Quixote's Rosinante bis zur Giraffe Freiligrath's hat pgo_072.010
die Thierwelt in der Poesie eine große Rolle gespielt. Das Hauptinteresse, pgo_072.011
das der menschliche Geist an der Thierwelt nimmt, ist darauf pgo_072.012
begründet, daß er in ihr einen Spiegel seiner Eigenschaften findet: pgo_072.013
darum erfreut uns das weiter ausgeführte Thierepos, ein Froschmäusekrieg, pgo_072.014
ein Reineke Fuchs, weil wir in den Thiergesichtern die Menschenphysiognomieen pgo_072.015
wieder erblicken, weil fast in jedem Thiere irgend eine pgo_072.016
menschliche Eigenschaft bis zur Carrikatur ausgebildet ist. Auch Don pgo_072.017
Quixote's Rosinante und Sancho's Grauer erregen nur deshalb unsere pgo_072.018
Theilnahme, weil wir in ihnen nicht blos die Begleiter, sondern die pgo_072.019
passenden Pendants ihrer Herrn erblicken. Freilich, wo die Thiermalerei pgo_072.020
im Sinne der niederländischen Schule Selbstzweck wird, da hört die pgo_072.021
Poesie auf, ebenso wo das Thier in einem Menschendrama zum Helden pgo_072.022
wird, wie der Hund des Aubry, der einen großen Dichter von der Leitung pgo_072.023
der Bühne verscheuchte. Freiligrath vermeidet diese Klippe nur dadurch, pgo_072.024
daß er uns das Thierreich in seinen Kämpfen zeigt, in welche wir unvermerkt pgo_072.025
ein menschliches Pathos hineinschaun. Dennoch geben wir einer pgo_072.026
Ballade, wie "die Jagd des Mogul" von Strachwitz, noch den Vorzug pgo_072.027
vor den Freiligrath'schen Schlachtbildern der Thierwelt, weil dort pgo_072.028
nicht nur der Kampf des Tigers mit dem Menschen geschildert ist, sondern pgo_072.029
auch durch eine schlagende charakteristische Pointe ein menschlich pgo_072.030
bedeutender Abschluß gewonnen wird. Dasselbe gilt von Schiller's pgo_072.031
bekannter Ballade "der Handschuh." Für die Dichtgattung selbst pgo_072.032
bestimmende Bedeutung hat die Thierwelt in der äsopischen Fabel pgo_072.033
erhalten. Der Grund, warum hier der Dichter statt der Menschen

*) pgo_072.034
Neue Gedichte S. 128.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/94>, abgerufen am 27.11.2024.