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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Die Geschichtschreibung hat den Zweck, uns über das Geschehene pgo_061.002
zu unterrichten, uns dasselbe in seinem Zusammenhang vor Augen zu pgo_061.003
führen. Mag sie dabei mit der Naivetät der Chronik zu Werke gehn pgo_061.004
oder die pragmatische Darstellung vorziehn, welche die Thatsachen auf pgo_061.005
ihre Ursachen zurückführt: sie bleibt an das zufällige Factum gebunden. pgo_061.006
Sie erzählt das Ueberlieferte und sucht durch die Kritik der Quellen Alles pgo_061.007
aus dem Wege zu räumen, was die Reinheit der Ueberlieferung trüben pgo_061.008
könnte. Thatsächliche Wahrheit ist ihr Hauptzweck. Wohl kann sie pgo_061.009
dabei auch Nebenzwecke verfolgen; sie kann patriotische Gesinnung zu pgo_061.010
erwecken trachten; sie kann der Gegenwart den Spiegel der Vergangenheit pgo_061.011
vorhalten wollen; aber alle diese Zwecke, selbst der Hauch pgo_061.012
einer freien und frischen Gesinnung, erheben sie nicht in das Reich der pgo_061.013
Poesie. Schon die Art und Weise, wie der Geschichtschreiber und der pgo_061.014
Dichter sich zum gegebenen Material verhalten, markirt die Grenzen pgo_061.015
zwischen Prosa und Poesie. Auch der Geschichtschreiber muß die Masse pgo_061.016
des Stoffes, welche ihm das Studium der Quellen an die Hand gegeben, pgo_061.017
künstlerisch sichten. Zunächst scheidet er das Unverbürgte aus; dann pgo_061.018
sucht er das Widersprechende entweder unter einem höheren Gesichtspunkte pgo_061.019
zu vereinigen oder er hebt nur die eine am meisten verbürgte und pgo_061.020
begründete Nachricht hervor; dann sucht er das Bedeutende vom Unbedeutenden pgo_061.021
zu sondern. Bedeutend aber ist ihm das, was ein Licht auf pgo_061.022
den Zusammenhang der Thatsachen wirft, was die Gründe von Krieg pgo_061.023
und Frieden, den innern Organismus der Staaten, den Charakter der pgo_061.024
Staatsmänner und Feldherrn oder die Entwickelung der Kultur zu erhellen pgo_061.025
vermag. Wieweit er in dieser Sichtung geht, das hängt vom pgo_061.026
Charakter seines Werkes ab, indem eine Specialgeschichte eine viel pgo_061.027
größere Fülle oft bedeutungsloser Mittheilungen aufnehmen muß, als pgo_061.028
eine allgemeine Geschichte der Welt oder der Nation. Das Jnteresse der pgo_061.029
Wahrheit als solche erstreckt sich bis auf die mikroskopischen Züge des pgo_061.030
Weltgeistes. An und für sich ist der Geschichtschreiber hierin sowenig pgo_061.031
beschränkt wie der Naturforscher, der stets neue Species von Jnsecten und pgo_061.032
Käfern an seine Nadel spießt oder neue Arten berühmter Modeblumen pgo_061.033
zieht -- jede neue Kenntniß bereichert die Wissenschaft. Die Grenzen, pgo_061.034
die sich daher der Historiker selbst steckt, sind beliebig und vom Zufalle pgo_061.035
abhängig; denn es ist ein Zufall, ob er die Geschichte einer Burg und

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Die Geschichtschreibung hat den Zweck, uns über das Geschehene pgo_061.002
zu unterrichten, uns dasselbe in seinem Zusammenhang vor Augen zu pgo_061.003
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einer freien und frischen Gesinnung, erheben sie nicht in das Reich der pgo_061.013
Poesie. Schon die Art und Weise, wie der Geschichtschreiber und der pgo_061.014
Dichter sich zum gegebenen Material verhalten, markirt die Grenzen pgo_061.015
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künstlerisch sichten. Zunächst scheidet er das Unverbürgte aus; dann pgo_061.018
sucht er das Widersprechende entweder unter einem höheren Gesichtspunkte pgo_061.019
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den Zusammenhang der Thatsachen wirft, was die Gründe von Krieg pgo_061.023
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Charakter seines Werkes ab, indem eine Specialgeschichte eine viel pgo_061.027
größere Fülle oft bedeutungsloser Mittheilungen aufnehmen muß, als pgo_061.028
eine allgemeine Geschichte der Welt oder der Nation. Das Jnteresse der pgo_061.029
Wahrheit als solche erstreckt sich bis auf die mikroskopischen Züge des pgo_061.030
Weltgeistes. An und für sich ist der Geschichtschreiber hierin sowenig pgo_061.031
beschränkt wie der Naturforscher, der stets neue Species von Jnsecten und pgo_061.032
Käfern an seine Nadel spießt oder neue Arten berühmter Modeblumen pgo_061.033
zieht — jede neue Kenntniß bereichert die Wissenschaft. Die Grenzen, pgo_061.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/83>, abgerufen am 28.11.2024.