pgo_054.001 zufällt. Jedenfalls sieht Wagner nur mit dem Auge des Musikers.pgo_054.002 Darum wüthet er gegen das Literaturdrama, d. h. gegen die dramatische pgo_054.003 Dichtung, welche die Charaktere auf den Boden reich gegliederter Lebensverhältnisse pgo_054.004 stellt. "Der Mensch, der im Drama der Zukunft sich darstellen pgo_054.005 wird, hat mit dem prosaisch intriguanten, staatsmodegesetzlichen Wirrwarr, pgo_054.006 den uns're modernen Dichter in einem Schauspiele auf das pgo_054.007 Umständlichste zu wirren und zu entwirren haben, durchaus Nichts mehr pgo_054.008 zu thun; sein naturgesetzliches Handeln und Reden ist: Ja, ja! und pgo_054.009 Nein, nein! wogegen alles Weitere vom Uebel d. h. modern, überflüssig pgo_054.010 ist*)." Also die entsetzliche Armuth der Naturlaute soll das geistig pgo_054.011 reiche Pathos der Tragödie ersetzen! Und warum -- weil die Musik mit pgo_054.012 diesem gedankenvollen Pathos Nichts anzufangen weiß! Man vergleiche pgo_054.013 den dichterischen Text eines "Hamlet" und "Macbeth," "Wallenstein" pgo_054.014 und "Carlos" mit dem Text eines "Tannhäuser," und man wird einsehn, pgo_054.015 welche Bereicherung der Poesie das Kunstwerk der Zukunft in Aussicht pgo_054.016 stellt. Ganz folgerichtig erklärt sich Wagner auch für das Wunder in pgo_054.017 der Poesie und schlägt überhaupt jene romantische Richtung ein, pgo_054.018 welche musikalischen Motiven günstig ist, aber die objective Gestaltung pgo_054.019 der Dichtkunst im höchsten Grade beeinträchtigt. Wenn wir indeß das pgo_054.020 Kunstwerk der Zukunft seiner nach Alleinherrschaft strebenden Ansprüche pgo_054.021 entkleiden: so läßt es sich wohl, wie auch die Wagner'schen Versuche pgo_054.022 beweisen, als ein musikalisches Drama denken, das allerdings entfernt an pgo_054.023 die antike Tragödie erinnert, schwer aufzufindende, einfache Gefühlsstoffe pgo_054.024 wählt und in der Ausführung Poesie und Musik in einem gewissen mittleren pgo_054.025 Gleichgewichte, in einer mittleren Temperatur hält, in welcher aber pgo_054.026 beide Künste Gefahr laufen, das Niveau der Mittelmäßigkeit nicht zu pgo_054.027 überschreiten. Daß das mindestens bei der Poesie der Fall ist, beweisen pgo_054.028 vorläufig die Wagner'schen Operntexte, die als Operntexte ganz gut, als pgo_054.029 poetische Kunstwerke aber ohne alle Bedeutung sind.
pgo_054.030 Die Wagner'schen Paradoxen erweisen sich in der That ersprießlich -- pgo_054.031 für die dichterische Gestaltung des Operntextes, wenn wir auch als Princip pgo_054.032 festhalten, daß der Dichter in der Oper, ihrem ganzen Wesen nach, pgo_054.033 nur für die Zwecke des Musikers arbeitet. Er kann dies mit gutem
*)pgo_054.034 Kunstwerk der Zukunft p. 204.
pgo_054.001 zufällt. Jedenfalls sieht Wagner nur mit dem Auge des Musikers.pgo_054.002 Darum wüthet er gegen das Literaturdrama, d. h. gegen die dramatische pgo_054.003 Dichtung, welche die Charaktere auf den Boden reich gegliederter Lebensverhältnisse pgo_054.004 stellt. „Der Mensch, der im Drama der Zukunft sich darstellen pgo_054.005 wird, hat mit dem prosaisch intriguanten, staatsmodegesetzlichen Wirrwarr, pgo_054.006 den uns're modernen Dichter in einem Schauspiele auf das pgo_054.007 Umständlichste zu wirren und zu entwirren haben, durchaus Nichts mehr pgo_054.008 zu thun; sein naturgesetzliches Handeln und Reden ist: Ja, ja! und pgo_054.009 Nein, nein! wogegen alles Weitere vom Uebel d. h. modern, überflüssig pgo_054.010 ist*).“ Also die entsetzliche Armuth der Naturlaute soll das geistig pgo_054.011 reiche Pathos der Tragödie ersetzen! Und warum — weil die Musik mit pgo_054.012 diesem gedankenvollen Pathos Nichts anzufangen weiß! Man vergleiche pgo_054.013 den dichterischen Text eines „Hamlet“ und „Macbeth,“ „Wallenstein“ pgo_054.014 und „Carlos“ mit dem Text eines „Tannhäuser,“ und man wird einsehn, pgo_054.015 welche Bereicherung der Poesie das Kunstwerk der Zukunft in Aussicht pgo_054.016 stellt. Ganz folgerichtig erklärt sich Wagner auch für das Wunder in pgo_054.017 der Poesie und schlägt überhaupt jene romantische Richtung ein, pgo_054.018 welche musikalischen Motiven günstig ist, aber die objective Gestaltung pgo_054.019 der Dichtkunst im höchsten Grade beeinträchtigt. Wenn wir indeß das pgo_054.020 Kunstwerk der Zukunft seiner nach Alleinherrschaft strebenden Ansprüche pgo_054.021 entkleiden: so läßt es sich wohl, wie auch die Wagner'schen Versuche pgo_054.022 beweisen, als ein musikalisches Drama denken, das allerdings entfernt an pgo_054.023 die antike Tragödie erinnert, schwer aufzufindende, einfache Gefühlsstoffe pgo_054.024 wählt und in der Ausführung Poesie und Musik in einem gewissen mittleren pgo_054.025 Gleichgewichte, in einer mittleren Temperatur hält, in welcher aber pgo_054.026 beide Künste Gefahr laufen, das Niveau der Mittelmäßigkeit nicht zu pgo_054.027 überschreiten. Daß das mindestens bei der Poesie der Fall ist, beweisen pgo_054.028 vorläufig die Wagner'schen Operntexte, die als Operntexte ganz gut, als pgo_054.029 poetische Kunstwerke aber ohne alle Bedeutung sind.
pgo_054.030 Die Wagner'schen Paradoxen erweisen sich in der That ersprießlich — pgo_054.031 für die dichterische Gestaltung des Operntextes, wenn wir auch als Princip pgo_054.032 festhalten, daß der Dichter in der Oper, ihrem ganzen Wesen nach, pgo_054.033 nur für die Zwecke des Musikers arbeitet. Er kann dies mit gutem
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/76>, abgerufen am 29.11.2024.
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