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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Bildern der Natur; sie hat schon suchend all' ihre Kraft und Pracht pgo_033.002
entwickelt und nimmt nun das sanftere Bild um so lebendiger in sich auf. pgo_033.003
Wie furchtbar wirkt die Hinrichtung der Maria Stuart, wenn wir sie pgo_033.004
aus Leicester's Seele heraus empfinden; wie verstärkt die doppelte Spiegelung pgo_033.005
das Bild! Schon bei einer wirklichen Schilderung des schrecklichen pgo_033.006
Actes hätten dem Dichter ganz andere Hilfsquellen für sein innerliches pgo_033.007
Bild zu Gebote gestanden, als etwa dem Maler, der in Verlegenheit pgo_033.008
gewesen wäre, welchen Moment der Handlung er zu ihrer Darstellung pgo_033.009
hätte herausgreifen können! Doch der Dichter erhöht die Wirkung pgo_033.010
des Bildes, indem er nicht unmittelbar schildert, sondern die Schilderung pgo_033.011
in die Seele eines Mannes verlegt, der in innigen und wechselnden Herzensbeziehungen pgo_033.012
zur Fürstin steht, und durch dessen Zweizüngigkeit sie dem pgo_033.013
Tode verfällt. Doch auch diese Spiegelung genügt dem Dichter nicht; pgo_033.014
er macht Leicester nicht zum unmittelbaren Zuschauer der Hinrichtung; er pgo_033.015
läßt uns mit ihm das Schreckliche nur durch das mit der Handlung verbundene pgo_033.016
Geräusch errathen. Und so erst erregt er in uns jene athemlose pgo_033.017
Spannung, in die das Herannahen des Furchtbaren das Gemüth versetzt, pgo_033.018
und läßt uns den ganzen Schmerz blitzartiger Vernichtung, den sein wirkliches pgo_033.019
Erscheinen, den die vollbrachte That hervorruft, mit durchfühlen. pgo_033.020
Die That des Macbeth, die Ermordung des Königs, ist am schrecklichsten pgo_033.021
in ihren vorausgehenden und nachfolgenden Spiegelungen. Der gespenstig pgo_033.022
drohende Dolch, die nachtwandelnde Königin, welche das Blut nur pgo_033.023
an ihre Hände träumt -- das versetzt unsere Phantasie erst in jene pgo_033.024
Stimmung, welche das äußerliche Geschehen nicht hätte erzeugen können. pgo_033.025
Diese große Wirkung des innerlichen Bildes der Dichtkunst beruht pgo_033.026
auf dem Wesen der menschlichen Einbildungskraft. So gewinnt die pgo_033.027
Poesie durch diesen Aether der inneren Sinnlichkeit, wenn sie auch an pgo_033.028
Klarheit und Bestimmtheit der Zeichnung einbüßt, doch wieder an Macht pgo_033.029
über das Gemüth. Hierzu kommt, daß gerade diese Jnnerlichkeit sie pgo_033.030
befähigt, den ganzen und uneingeschränkten Reichthum der Jdee zu entfalten, pgo_033.031
einen geistigen Jnhalt, den in solcher Fülle keine andere Kunst in pgo_033.032
sich aufzunehmen vermag. Die Schönheiten der Natur, die Thaten der pgo_033.033
Geschichte, die Gedanken des Geistes, die unendliche Erscheinungswelt pgo_033.034
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aber sie muß diesen ganzen Jnhalt für die Anschauung innerlich verbildlichen

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/55>, abgerufen am 23.11.2024.