pgo_033.001 Bildern der Natur; sie hat schon suchend all' ihre Kraft und Pracht pgo_033.002 entwickelt und nimmt nun das sanftere Bild um so lebendiger in sich auf. pgo_033.003 Wie furchtbar wirkt die Hinrichtung der Maria Stuart, wenn wir sie pgo_033.004 aus Leicester's Seele heraus empfinden; wie verstärkt die doppelte Spiegelung pgo_033.005 das Bild! Schon bei einer wirklichen Schilderung des schrecklichen pgo_033.006 Actes hätten dem Dichter ganz andere Hilfsquellen für sein innerlichespgo_033.007 Bild zu Gebote gestanden, als etwa dem Maler, der in Verlegenheit pgo_033.008 gewesen wäre, welchen Moment der Handlung er zu ihrer Darstellung pgo_033.009 hätte herausgreifen können! Doch der Dichter erhöht die Wirkung pgo_033.010 des Bildes, indem er nicht unmittelbar schildert, sondern die Schilderung pgo_033.011 in die Seele eines Mannes verlegt, der in innigen und wechselnden Herzensbeziehungen pgo_033.012 zur Fürstin steht, und durch dessen Zweizüngigkeit sie dem pgo_033.013 Tode verfällt. Doch auch diese Spiegelung genügt dem Dichter nicht; pgo_033.014 er macht Leicester nicht zum unmittelbaren Zuschauer der Hinrichtung; er pgo_033.015 läßt uns mit ihm das Schreckliche nur durch das mit der Handlung verbundene pgo_033.016 Geräusch errathen. Und so erst erregt er in uns jene athemlose pgo_033.017 Spannung, in die das Herannahen des Furchtbaren das Gemüth versetzt, pgo_033.018 und läßt uns den ganzen Schmerz blitzartiger Vernichtung, den sein wirkliches pgo_033.019 Erscheinen, den die vollbrachte That hervorruft, mit durchfühlen. pgo_033.020 Die That des Macbeth, die Ermordung des Königs, ist am schrecklichsten pgo_033.021 in ihren vorausgehenden und nachfolgenden Spiegelungen. Der gespenstig pgo_033.022 drohende Dolch, die nachtwandelnde Königin, welche das Blut nur pgo_033.023 an ihre Hände träumt -- das versetzt unsere Phantasie erst in jene pgo_033.024 Stimmung, welche das äußerliche Geschehen nicht hätte erzeugen können. pgo_033.025 Diese große Wirkung des innerlichen Bildes der Dichtkunst beruht pgo_033.026 auf dem Wesen der menschlichen Einbildungskraft. So gewinnt die pgo_033.027 Poesie durch diesen Aether der inneren Sinnlichkeit, wenn sie auch an pgo_033.028 Klarheit und Bestimmtheit der Zeichnung einbüßt, doch wieder an Macht pgo_033.029 über das Gemüth. Hierzu kommt, daß gerade diese Jnnerlichkeit sie pgo_033.030 befähigt, den ganzen und uneingeschränkten Reichthum der Jdee zu entfalten, pgo_033.031 einen geistigen Jnhalt, den in solcher Fülle keine andere Kunst in pgo_033.032 sich aufzunehmen vermag. Die Schönheiten der Natur, die Thaten der pgo_033.033 Geschichte, die Gedanken des Geistes, die unendliche Erscheinungswelt pgo_033.034 der Leidenschaften, alle Stimmungen des Gemüthes fallen in ihren Kreis; pgo_033.035 aber sie muß diesen ganzen Jnhalt für die Anschauung innerlich verbildlichen
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/55>, abgerufen am 23.11.2024.
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