pgo_477.001 mit einer gewissen Gewaltsamkeit der Bühne zugänglich zu machen und stets nur hohe pgo_477.002 Ausnahmen, ein Kunstfest der Auserwählten gewesen? Die poetische Grenzgattung, der pgo_477.003 Roman, der für die Aufnahme neuer Stoffe die geräumigste Form bietet, zeigt uns am pgo_477.004 deutlichsten, welch' eine Fülle von Gedanken, von Problemen, von geistigen und gesellschaftlichen pgo_477.005 Verwicklungen und Conflicten seit jener Glanzepoche der deutschen Literatur pgo_477.006 zur Geltung gekommen ist. Und diesen Thatsachen gegenüber können wir uns der Einsicht pgo_477.007 nicht verschließen, daß unsere Literatur in eine neue Epoche getreten, deren erste pgo_477.008 Entwickelungskrankheiten sie bereits glücklich überstanden hat, deren Bedeutung darin pgo_477.009 besteht, eine vollkommenere Versöhnung der Gelehrten- und Volkspoesie anzustreben, pgo_477.010 als unseren Classikern möglich war, und die von ihnen überlieferte Kunstform mit allem pgo_477.011 Reichthum des modernen Lebens zu erfüllen. Das neunzehnte Jahrhundert hat auf pgo_477.012 allen Gebieten der Kunst und des Wissens die Erbschaft des achtzehnten angetreten; pgo_477.013 aber, weit entfernt, dieselbe zu verschleudern, hat es Capital und Zinsen verdoppelt. pgo_477.014 Freilich stimmt diese Behauptung nicht mit der hypochondrischen Art und Weise überein, pgo_477.015 mit der man sich gewöhnt hat, auf alle neueren literarischen Bestrebungen herabzusehn pgo_477.016 und schon durch dies vornehme Herabsehn seinen hohen Standpunkt an den Tag zu pgo_477.017 legen. Am wenigsten läßt sich die Entwickelung einer Literatur nach den Regeln der pgo_477.018 Dreifelderwirthschaft bestimmen, wie es Gervinus gethan, welcher den Rath ertheilt, pgo_477.019 nun die Poesie brach liegen zu lassen und die Politik zu bearbeiten. Die Ansicht eines pgo_477.020 Einzelnen kann hier, bei aller sonstigen Berechtigung und Befähigung, nicht maaßgebend pgo_477.021 sein, indem sie durch den productiven Drang der Nation und thatsächliche Leistungen pgo_477.022 ihre schlagendste Widerlegung erhält.
pgo_477.023 Dem Literarhistoriker der Gegenwart bietet sich eine doppelte Betrachtungs- und pgo_477.024 Darstellungsweise dar: er kann epochenweise den Jnhalt der geistigen Bewegungen pgo_477.025 zusammenfassen und weniger den Entwickelungsgang der einzelnen Autoren berücksichtigen, pgo_477.026 als ihr Eingreifen in die gesammte Entwickelung der Nation, das er stets in pgo_477.027 dem entscheidenden Zeitpunkte darstellt; oder er stellt die Entwickelung der einzelnen pgo_477.028 bedeutsamen Autoren in den Vordergrund, mag sie auch verschiedene Richtungen umfassen; pgo_477.029 er läßt diese Entwickelung in sich selbst austönen und weist nur auf ihren Zusammenhang pgo_477.030 mit den allgemeinen geistigen Strömungen hin. Für die Literaturgeschichte pgo_477.031 der Vergangenheit ist der erste Standpunkt ohne Frage der richtige, weil dort umfangreiche pgo_477.032 Epochen eine in's Große gehende Charakteristik gestatten; doch die Gegenwart pgo_477.033 mißt ihre Epochen nur nach Decennien; die chronologischen Einschnitte sind hier ohne pgo_477.034 Wichtigkeit; die geistigen Richtungen gehen der Zeit nach meistens neben einander her pgo_477.035 und sondern sich nur nach ideellen Gesichtspunkten. Goethe lebte noch, nachdem die pgo_477.036 romantische Schule schon verblüht; Tieck ist noch ein Zeitgenosse der jungdeutschen pgo_477.037 Bestrebungen, der modernen Lyrik und des modernen Drama gewesen. Mit wenigen pgo_477.038 Ausnahmen sind daher im vorliegenden Werke die bedeutenden Autoren wohl dort eingereiht, pgo_477.039 wo der Schwerpunkt ihres geistigen Wirkens zu suchen ist, aber dort auch in pgo_477.040 ihrem ganzen Entwickelungsgang, mag er auch in andere Richtungen übergreifen, pgo_477.041 behandelt worden. Ebenso sind die Uebergänge der einen Richtung in die andere pgo_477.042 weniger in chronologischer Reihenfolge, als nach ihrem begrifflichen Schwerpunkte aufgefaßt. pgo_477.043 Das Vorwiegen des kritischen Elements, das indeß von einer Verzettelung des pgo_477.044 Werkes in einzelne Kritiken wohl zu unterscheiden ist, läßt sich bei der eingehenden Darstellung pgo_477.045 einer kurzen und naheliegenden Epoche, welche keine großen historischen Perspectiven pgo_477.046 gestattet, gewiß rechtfertigen, denn hier sind durch Tradition keine feststehenden pgo_477.047 Gesichtspunkte gegeben; es kommt darauf an, durch Analyse der einzelnen Autoren erst pgo_477.048 ihren geistigen Extract zu gewinnen und, was in ihnen verwandt und gemeinsam ist, pgo_477.049 zur Bezeichnung einer literarischen Richtung zusammenzustellen.
pgo_477.050 Die Eintheilung des Werks zeigt zunächst ein auffälliges räumliches Mißverhältniß pgo_477.051 zwischen den einzelnen Abtheilungen, indem die letzte, welche die moderne Richtungpgo_477.052 behandelt, nicht blos fast ein Drittheil des ersten Bandes, sondern auch den ganzen pgo_477.053 zweiten Band umfaßt. Dafür lassen sich gewichtige Entschuldigungsgründe anführen. Die pgo_477.054 ideelle Gliederung des Werks war durch die scharfen geistigen Einschnitte bestimmt, pgo_477.055 welche der Fortgang der deutschen Nationalliteratur in unserem Jahrhundert bedingte. pgo_477.056 Die Classiker schufen uns die künstlerische Form nach antikem Vorbild und mit pgo_477.057 humanem Geiste; die Romantiker zerstörten diese Form wieder, um die Phantasie pgo_477.058 von gegebenen Traditionen zu emancipiren und die Dichtung volksthümlich zu pgo_477.059 machen, verfielen aber dabei in eine chaotische Urpoesie und in die Abhängigkeit von nur
pgo_477.001 mit einer gewissen Gewaltsamkeit der Bühne zugänglich zu machen und stets nur hohe pgo_477.002 Ausnahmen, ein Kunstfest der Auserwählten gewesen? Die poetische Grenzgattung, der pgo_477.003 Roman, der für die Aufnahme neuer Stoffe die geräumigste Form bietet, zeigt uns am pgo_477.004 deutlichsten, welch' eine Fülle von Gedanken, von Problemen, von geistigen und gesellschaftlichen pgo_477.005 Verwicklungen und Conflicten seit jener Glanzepoche der deutschen Literatur pgo_477.006 zur Geltung gekommen ist. Und diesen Thatsachen gegenüber können wir uns der Einsicht pgo_477.007 nicht verschließen, daß unsere Literatur in eine neue Epoche getreten, deren erste pgo_477.008 Entwickelungskrankheiten sie bereits glücklich überstanden hat, deren Bedeutung darin pgo_477.009 besteht, eine vollkommenere Versöhnung der Gelehrten- und Volkspoesie anzustreben, pgo_477.010 als unseren Classikern möglich war, und die von ihnen überlieferte Kunstform mit allem pgo_477.011 Reichthum des modernen Lebens zu erfüllen. Das neunzehnte Jahrhundert hat auf pgo_477.012 allen Gebieten der Kunst und des Wissens die Erbschaft des achtzehnten angetreten; pgo_477.013 aber, weit entfernt, dieselbe zu verschleudern, hat es Capital und Zinsen verdoppelt. pgo_477.014 Freilich stimmt diese Behauptung nicht mit der hypochondrischen Art und Weise überein, pgo_477.015 mit der man sich gewöhnt hat, auf alle neueren literarischen Bestrebungen herabzusehn pgo_477.016 und schon durch dies vornehme Herabsehn seinen hohen Standpunkt an den Tag zu pgo_477.017 legen. Am wenigsten läßt sich die Entwickelung einer Literatur nach den Regeln der pgo_477.018 Dreifelderwirthschaft bestimmen, wie es Gervinus gethan, welcher den Rath ertheilt, pgo_477.019 nun die Poesie brach liegen zu lassen und die Politik zu bearbeiten. Die Ansicht eines pgo_477.020 Einzelnen kann hier, bei aller sonstigen Berechtigung und Befähigung, nicht maaßgebend pgo_477.021 sein, indem sie durch den productiven Drang der Nation und thatsächliche Leistungen pgo_477.022 ihre schlagendste Widerlegung erhält.
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pgo_477.050 Die Eintheilung des Werks zeigt zunächst ein auffälliges räumliches Mißverhältniß pgo_477.051 zwischen den einzelnen Abtheilungen, indem die letzte, welche die moderne Richtungpgo_477.052 behandelt, nicht blos fast ein Drittheil des ersten Bandes, sondern auch den ganzen pgo_477.053 zweiten Band umfaßt. Dafür lassen sich gewichtige Entschuldigungsgründe anführen. Die pgo_477.054 ideelle Gliederung des Werks war durch die scharfen geistigen Einschnitte bestimmt, pgo_477.055 welche der Fortgang der deutschen Nationalliteratur in unserem Jahrhundert bedingte. pgo_477.056 Die Classiker schufen uns die künstlerische Form nach antikem Vorbild und mit pgo_477.057 humanem Geiste; die Romantiker zerstörten diese Form wieder, um die Phantasie pgo_477.058 von gegebenen Traditionen zu emancipiren und die Dichtung volksthümlich zu pgo_477.059 machen, verfielen aber dabei in eine chaotische Urpoesie und in die Abhängigkeit von nur
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ihren geistigen Extract zu gewinnen und, was in ihnen verwandt und gemeinsam ist, pgo_477.049
zur Bezeichnung einer literarischen Richtung zusammenzustellen.
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Die Eintheilung des Werks zeigt zunächst ein auffälliges räumliches Mißverhältniß pgo_477.051
zwischen den einzelnen Abtheilungen, indem die letzte, welche die moderne Richtung pgo_477.052
behandelt, nicht blos fast ein Drittheil des ersten Bandes, sondern auch den ganzen pgo_477.053
zweiten Band umfaßt. Dafür lassen sich gewichtige Entschuldigungsgründe anführen. Die pgo_477.054
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Die Classiker schufen uns die künstlerische Form nach antikem Vorbild und mit pgo_477.057
humanem Geiste; die Romantiker zerstörten diese Form wieder, um die Phantasie pgo_477.058
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/499>, abgerufen am 25.11.2024.
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