Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite
pgo_475.001
Verlag von Eduard Trewendt in Breslau. pgo_475.002
Literarische Anzeige.

pgo_475.003
Die deutsche Nationalliteratur pgo_475.004
in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. pgo_475.005
Literarhistorisch und kritisch dargestellt pgo_475.006
von pgo_475.007
Rudolph Gottschall. pgo_475.008
gr. 8. 74 Bogen. Eleg. brosch. Preis 5 Rthlr.
pgo_475.009

[Abbildung]

pgo_475.010
Der Literarhistoriker, welcher die jüngste, in die unmittelbare Gegenwart hinübergreifende pgo_475.011
Epoche einer Literatur behandelt, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche die Literaturgeschichte pgo_475.012
der Vergangenheit nicht kennt. Zwar die Mühseligkeiten antiquarischer pgo_475.013
Forschung, welche die dichterischen Schöpfungen älterer Zeit kritisch sichten, den Zeitpunkt pgo_475.014
ihrer Entstehung, die Namen ihrer Verfasser, ihrer Vorläufer und Nachfolger ermitteln pgo_475.015
und gleichsam erst das Terrain für die eigentlich literarhistorischen Leistungen erobern pgo_475.016
muß, liegen ihm fern; aber dieser Vortheil wird hinlänglich aufgewogen durch die pgo_475.017
Schwierigkeit, das Naheliegende mit vollkommener Unbefangenheit anzuschauen und zu pgo_475.018
behandeln, Richtungen, die noch in unmittelbarem Fluß und Fortgang sind, zu ordnen pgo_475.019
und zu gruppiren und die hervorragenden Talente selbst, von Anfeindung und Vergötterung pgo_475.020
fern, nach ihrer wahren Bedeutung zu charakterisiren. Hierzu kommt, daß die pgo_475.021
heftigen politischen und religiösen Strömungen der Gegenwart so leicht den richtigen pgo_475.022
Gesichtspunkt verrücken. Der Literarhistoriker, der stets den nationalen Standpunkt pgo_475.023
festhalten will und alle Kräfte und Entwickelungen auf ihn zurückbezieht, der nicht eine pgo_475.024
flache Vermittelung zwischen den sich bekämpfenden Extremen sucht, sondern in dieser pgo_475.025
Ausbreitung nach allen Richtungen hin nur eine Vermehrung des geistigen Fonds der pgo_475.026
Nation und ein Wachsthum ihres Ruhmes findet, muß daher eine selbstständige Schätzung pgo_475.027
des Bedeutenden dem polemischen Gewirr des Tages abkämpfen. Ebenso mißlich muß pgo_475.028
die Massenhaftigkeit der jüngsten Production, die gewaltig in's Kraut schießt, dem pgo_475.029
Literarhistoriker erscheinen, da er hier nicht nach abschließenden Resultaten messen kann, pgo_475.030
da ihm kein "fertiger" Ruhm der Einzelnen den sichern Halt giebt, sondern eine gährende pgo_475.031
Epoche voll Werdelust ihm auch nur einen werdenden und wachsenden und deshalb pgo_475.032
viel bestrittenen Ruhm überliefert. Am mißlichsten aber stellt sich solchem Unternehmen pgo_475.033
die viel verbreitete, von großen Autoritäten gestützte Ansicht entgegen, daß unsere pgo_475.034
Nationalliteratur seit Schiller und Goethe nichts Bedeutendes hervorgebracht habe, sondern pgo_475.035
sich nur in absteigender Linie fortbewege, eine Ansicht, die, wenn sie begründet wäre, pgo_475.036
freilich einem Werke, wie das vorliegende, alle Bedeutung rauben müßte; denn es wäre pgo_475.037
dann nur die Sisyphusarbeit, einen Stein den Berg hinaufzuwälzen, der nach dem pgo_475.038
Willen des Zeus doch wieder herunterrollen muß.

pgo_475.039
Mit diesen Schwierigkeiten sind aber zugleich die Ziele gesteckt, denen der Literarhistoriker pgo_475.040
der Neuzeit nachzustreben hat, mag es auch nicht in seine Gewalt gegeben sein, pgo_475.041
sie ganz zu erreichen. Er muß das Naheliegende sich in eine Ferne zu rücken suchen, in pgo_475.042
der es, von Sympathieen und Antipathieen nicht berührt, nur durch seine eigene Kraft pgo_475.043
wirkt und Maaß und Schätzung nach bestimmten objectiven Gesetzen verstattet; in eine pgo_475.044
Ferne, in welcher das, was allzunah wie ein buntes, regelloses Gedränge erscheint, sich pgo_475.045
in klare, deutliche Gruppen sondert; er muß dem Historiker der Zukunft vorgreifen und pgo_475.046
eine Perspective zu gewinnen suchen, wie sie die Vergangenheit aus freien Stücken darbietet. pgo_475.047
Aber so schwer es ist, gleichzeitige Entwickelungen zu belauschen und gleichsam pgo_475.048
das Gras der Geschichte wachsen zu hören: so ist es doch noch schwerer und erfordert pgo_475.049
den feinsten kritischen Sinn und Takt, aus der noch nicht abgeschlossenen Entwickelung pgo_475.050
der Talente den Pulsschlag ihrer Zukunft herauszuhören. Denn, abgesehn von den

pgo_475.001
Verlag von Eduard Trewendt in Breslau. pgo_475.002
Literarische Anzeige.

pgo_475.003
Die deutsche Nationalliteratur pgo_475.004
in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. pgo_475.005
Literarhistorisch und kritisch dargestellt pgo_475.006
von pgo_475.007
Rudolph Gottschall. pgo_475.008
gr. 8. 74 Bogen. Eleg. brosch. Preis 5 Rthlr.
pgo_475.009

[Abbildung]

pgo_475.010
Der Literarhistoriker, welcher die jüngste, in die unmittelbare Gegenwart hinübergreifende pgo_475.011
Epoche einer Literatur behandelt, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche die Literaturgeschichte pgo_475.012
der Vergangenheit nicht kennt. Zwar die Mühseligkeiten antiquarischer pgo_475.013
Forschung, welche die dichterischen Schöpfungen älterer Zeit kritisch sichten, den Zeitpunkt pgo_475.014
ihrer Entstehung, die Namen ihrer Verfasser, ihrer Vorläufer und Nachfolger ermitteln pgo_475.015
und gleichsam erst das Terrain für die eigentlich literarhistorischen Leistungen erobern pgo_475.016
muß, liegen ihm fern; aber dieser Vortheil wird hinlänglich aufgewogen durch die pgo_475.017
Schwierigkeit, das Naheliegende mit vollkommener Unbefangenheit anzuschauen und zu pgo_475.018
behandeln, Richtungen, die noch in unmittelbarem Fluß und Fortgang sind, zu ordnen pgo_475.019
und zu gruppiren und die hervorragenden Talente selbst, von Anfeindung und Vergötterung pgo_475.020
fern, nach ihrer wahren Bedeutung zu charakterisiren. Hierzu kommt, daß die pgo_475.021
heftigen politischen und religiösen Strömungen der Gegenwart so leicht den richtigen pgo_475.022
Gesichtspunkt verrücken. Der Literarhistoriker, der stets den nationalen Standpunkt pgo_475.023
festhalten will und alle Kräfte und Entwickelungen auf ihn zurückbezieht, der nicht eine pgo_475.024
flache Vermittelung zwischen den sich bekämpfenden Extremen sucht, sondern in dieser pgo_475.025
Ausbreitung nach allen Richtungen hin nur eine Vermehrung des geistigen Fonds der pgo_475.026
Nation und ein Wachsthum ihres Ruhmes findet, muß daher eine selbstständige Schätzung pgo_475.027
des Bedeutenden dem polemischen Gewirr des Tages abkämpfen. Ebenso mißlich muß pgo_475.028
die Massenhaftigkeit der jüngsten Production, die gewaltig in's Kraut schießt, dem pgo_475.029
Literarhistoriker erscheinen, da er hier nicht nach abschließenden Resultaten messen kann, pgo_475.030
da ihm kein „fertiger“ Ruhm der Einzelnen den sichern Halt giebt, sondern eine gährende pgo_475.031
Epoche voll Werdelust ihm auch nur einen werdenden und wachsenden und deshalb pgo_475.032
viel bestrittenen Ruhm überliefert. Am mißlichsten aber stellt sich solchem Unternehmen pgo_475.033
die viel verbreitete, von großen Autoritäten gestützte Ansicht entgegen, daß unsere pgo_475.034
Nationalliteratur seit Schiller und Goethe nichts Bedeutendes hervorgebracht habe, sondern pgo_475.035
sich nur in absteigender Linie fortbewege, eine Ansicht, die, wenn sie begründet wäre, pgo_475.036
freilich einem Werke, wie das vorliegende, alle Bedeutung rauben müßte; denn es wäre pgo_475.037
dann nur die Sisyphusarbeit, einen Stein den Berg hinaufzuwälzen, der nach dem pgo_475.038
Willen des Zeus doch wieder herunterrollen muß.

pgo_475.039
Mit diesen Schwierigkeiten sind aber zugleich die Ziele gesteckt, denen der Literarhistoriker pgo_475.040
der Neuzeit nachzustreben hat, mag es auch nicht in seine Gewalt gegeben sein, pgo_475.041
sie ganz zu erreichen. Er muß das Naheliegende sich in eine Ferne zu rücken suchen, in pgo_475.042
der es, von Sympathieen und Antipathieen nicht berührt, nur durch seine eigene Kraft pgo_475.043
wirkt und Maaß und Schätzung nach bestimmten objectiven Gesetzen verstattet; in eine pgo_475.044
Ferne, in welcher das, was allzunah wie ein buntes, regelloses Gedränge erscheint, sich pgo_475.045
in klare, deutliche Gruppen sondert; er muß dem Historiker der Zukunft vorgreifen und pgo_475.046
eine Perspective zu gewinnen suchen, wie sie die Vergangenheit aus freien Stücken darbietet. pgo_475.047
Aber so schwer es ist, gleichzeitige Entwickelungen zu belauschen und gleichsam pgo_475.048
das Gras der Geschichte wachsen zu hören: so ist es doch noch schwerer und erfordert pgo_475.049
den feinsten kritischen Sinn und Takt, aus der noch nicht abgeschlossenen Entwickelung pgo_475.050
der Talente den Pulsschlag ihrer Zukunft herauszuhören. Denn, abgesehn von den

<TEI>
  <text>
    <back>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0497" n="E475"/>
        <lb n="pgo_475.001"/>
        <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Verlag von Eduard Trewendt in Breslau.</hi><lb n="pgo_475.002"/>
Literarische Anzeige.<lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/> <lb n="pgo_475.003"/>
Die deutsche Nationalliteratur <lb n="pgo_475.004"/>
in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. <lb n="pgo_475.005"/>
Literarhistorisch und kritisch dargestellt <lb n="pgo_475.006"/>
von <lb n="pgo_475.007"/>
Rudolph Gottschall. <lb n="pgo_475.008"/>
gr. 8. 74 Bogen. Eleg. brosch. Preis 5 Rthlr.</hi> </head>
        <lb n="pgo_475.009"/>
        <p> <hi rendition="#c">
            <figure/>
          </hi> </p>
        <p><lb n="pgo_475.010"/>
Der Literarhistoriker, welcher die jüngste, in die unmittelbare Gegenwart hinübergreifende <lb n="pgo_475.011"/>
Epoche einer Literatur behandelt, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche die Literaturgeschichte <lb n="pgo_475.012"/>
der Vergangenheit nicht kennt. Zwar die Mühseligkeiten antiquarischer <lb n="pgo_475.013"/>
Forschung, welche die dichterischen Schöpfungen älterer Zeit kritisch sichten, den Zeitpunkt <lb n="pgo_475.014"/>
ihrer Entstehung, die Namen ihrer Verfasser, ihrer Vorläufer und Nachfolger ermitteln <lb n="pgo_475.015"/>
und gleichsam erst das Terrain für die eigentlich literarhistorischen Leistungen erobern <lb n="pgo_475.016"/>
muß, liegen ihm fern; aber dieser Vortheil wird hinlänglich aufgewogen durch die <lb n="pgo_475.017"/>
Schwierigkeit, das Naheliegende mit vollkommener Unbefangenheit anzuschauen und zu <lb n="pgo_475.018"/>
behandeln, Richtungen, die noch in unmittelbarem Fluß und Fortgang sind, zu ordnen <lb n="pgo_475.019"/>
und zu gruppiren und die hervorragenden Talente selbst, von Anfeindung und Vergötterung <lb n="pgo_475.020"/>
fern, nach ihrer wahren Bedeutung zu charakterisiren. Hierzu kommt, daß die <lb n="pgo_475.021"/>
heftigen politischen und religiösen Strömungen der Gegenwart so leicht den richtigen <lb n="pgo_475.022"/>
Gesichtspunkt verrücken. Der Literarhistoriker, der stets den <hi rendition="#g">nationalen</hi> Standpunkt <lb n="pgo_475.023"/>
festhalten will und alle Kräfte und Entwickelungen auf ihn zurückbezieht, der nicht eine <lb n="pgo_475.024"/>
flache Vermittelung zwischen den sich bekämpfenden Extremen sucht, sondern in dieser <lb n="pgo_475.025"/>
Ausbreitung nach allen Richtungen hin nur eine Vermehrung des geistigen Fonds der <lb n="pgo_475.026"/>
Nation und ein Wachsthum ihres Ruhmes findet, muß daher eine selbstständige Schätzung <lb n="pgo_475.027"/>
des Bedeutenden dem polemischen Gewirr des Tages abkämpfen. Ebenso mißlich muß <lb n="pgo_475.028"/>
die Massenhaftigkeit der jüngsten Production, die gewaltig in's Kraut schießt, dem <lb n="pgo_475.029"/>
Literarhistoriker erscheinen, da er hier nicht nach abschließenden Resultaten messen kann, <lb n="pgo_475.030"/>
da ihm kein &#x201E;fertiger&#x201C; Ruhm der Einzelnen den sichern Halt giebt, sondern eine gährende <lb n="pgo_475.031"/>
Epoche voll Werdelust ihm auch nur einen werdenden und wachsenden und deshalb <lb n="pgo_475.032"/>
viel bestrittenen Ruhm überliefert. Am mißlichsten aber stellt sich solchem Unternehmen <lb n="pgo_475.033"/>
die viel verbreitete, von großen Autoritäten gestützte Ansicht entgegen, daß unsere <lb n="pgo_475.034"/>
Nationalliteratur seit Schiller und Goethe nichts Bedeutendes hervorgebracht habe, sondern <lb n="pgo_475.035"/>
sich nur in absteigender Linie fortbewege, eine Ansicht, die, wenn sie begründet wäre, <lb n="pgo_475.036"/>
freilich einem Werke, wie das vorliegende, alle Bedeutung rauben müßte; denn es wäre <lb n="pgo_475.037"/>
dann nur die Sisyphusarbeit, einen Stein den Berg hinaufzuwälzen, der nach dem <lb n="pgo_475.038"/>
Willen des Zeus doch wieder herunterrollen muß.</p>
        <p><lb n="pgo_475.039"/>
Mit diesen Schwierigkeiten sind aber zugleich die Ziele gesteckt, denen der Literarhistoriker <lb n="pgo_475.040"/>
der Neuzeit nachzustreben hat, mag es auch nicht in seine Gewalt gegeben sein, <lb n="pgo_475.041"/>
sie ganz zu erreichen. Er muß das Naheliegende sich in eine Ferne zu rücken suchen, in <lb n="pgo_475.042"/>
der es, von Sympathieen und Antipathieen nicht berührt, nur durch seine eigene Kraft <lb n="pgo_475.043"/>
wirkt und Maaß und Schätzung nach bestimmten objectiven Gesetzen verstattet; in eine <lb n="pgo_475.044"/>
Ferne, in welcher das, was allzunah wie ein buntes, regelloses Gedränge erscheint, sich <lb n="pgo_475.045"/>
in klare, deutliche Gruppen sondert; er muß dem Historiker der Zukunft vorgreifen und <lb n="pgo_475.046"/>
eine Perspective zu gewinnen suchen, wie sie die Vergangenheit aus freien Stücken darbietet. <lb n="pgo_475.047"/>
Aber so schwer es ist, gleichzeitige Entwickelungen zu belauschen und gleichsam <lb n="pgo_475.048"/>
das Gras der Geschichte wachsen zu hören: so ist es doch noch schwerer und erfordert <lb n="pgo_475.049"/>
den feinsten kritischen Sinn und Takt, aus der noch nicht abgeschlossenen Entwickelung <lb n="pgo_475.050"/>
der Talente den Pulsschlag ihrer Zukunft herauszuhören. Denn, abgesehn von den
</p>
      </div>
    </back>
  </text>
</TEI>
[E475/0497] pgo_475.001 Verlag von Eduard Trewendt in Breslau. pgo_475.002 Literarische Anzeige. pgo_475.003 Die deutsche Nationalliteratur pgo_475.004 in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. pgo_475.005 Literarhistorisch und kritisch dargestellt pgo_475.006 von pgo_475.007 Rudolph Gottschall. pgo_475.008 gr. 8. 74 Bogen. Eleg. brosch. Preis 5 Rthlr. pgo_475.009 [Abbildung] pgo_475.010 Der Literarhistoriker, welcher die jüngste, in die unmittelbare Gegenwart hinübergreifende pgo_475.011 Epoche einer Literatur behandelt, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche die Literaturgeschichte pgo_475.012 der Vergangenheit nicht kennt. Zwar die Mühseligkeiten antiquarischer pgo_475.013 Forschung, welche die dichterischen Schöpfungen älterer Zeit kritisch sichten, den Zeitpunkt pgo_475.014 ihrer Entstehung, die Namen ihrer Verfasser, ihrer Vorläufer und Nachfolger ermitteln pgo_475.015 und gleichsam erst das Terrain für die eigentlich literarhistorischen Leistungen erobern pgo_475.016 muß, liegen ihm fern; aber dieser Vortheil wird hinlänglich aufgewogen durch die pgo_475.017 Schwierigkeit, das Naheliegende mit vollkommener Unbefangenheit anzuschauen und zu pgo_475.018 behandeln, Richtungen, die noch in unmittelbarem Fluß und Fortgang sind, zu ordnen pgo_475.019 und zu gruppiren und die hervorragenden Talente selbst, von Anfeindung und Vergötterung pgo_475.020 fern, nach ihrer wahren Bedeutung zu charakterisiren. Hierzu kommt, daß die pgo_475.021 heftigen politischen und religiösen Strömungen der Gegenwart so leicht den richtigen pgo_475.022 Gesichtspunkt verrücken. Der Literarhistoriker, der stets den nationalen Standpunkt pgo_475.023 festhalten will und alle Kräfte und Entwickelungen auf ihn zurückbezieht, der nicht eine pgo_475.024 flache Vermittelung zwischen den sich bekämpfenden Extremen sucht, sondern in dieser pgo_475.025 Ausbreitung nach allen Richtungen hin nur eine Vermehrung des geistigen Fonds der pgo_475.026 Nation und ein Wachsthum ihres Ruhmes findet, muß daher eine selbstständige Schätzung pgo_475.027 des Bedeutenden dem polemischen Gewirr des Tages abkämpfen. Ebenso mißlich muß pgo_475.028 die Massenhaftigkeit der jüngsten Production, die gewaltig in's Kraut schießt, dem pgo_475.029 Literarhistoriker erscheinen, da er hier nicht nach abschließenden Resultaten messen kann, pgo_475.030 da ihm kein „fertiger“ Ruhm der Einzelnen den sichern Halt giebt, sondern eine gährende pgo_475.031 Epoche voll Werdelust ihm auch nur einen werdenden und wachsenden und deshalb pgo_475.032 viel bestrittenen Ruhm überliefert. Am mißlichsten aber stellt sich solchem Unternehmen pgo_475.033 die viel verbreitete, von großen Autoritäten gestützte Ansicht entgegen, daß unsere pgo_475.034 Nationalliteratur seit Schiller und Goethe nichts Bedeutendes hervorgebracht habe, sondern pgo_475.035 sich nur in absteigender Linie fortbewege, eine Ansicht, die, wenn sie begründet wäre, pgo_475.036 freilich einem Werke, wie das vorliegende, alle Bedeutung rauben müßte; denn es wäre pgo_475.037 dann nur die Sisyphusarbeit, einen Stein den Berg hinaufzuwälzen, der nach dem pgo_475.038 Willen des Zeus doch wieder herunterrollen muß. pgo_475.039 Mit diesen Schwierigkeiten sind aber zugleich die Ziele gesteckt, denen der Literarhistoriker pgo_475.040 der Neuzeit nachzustreben hat, mag es auch nicht in seine Gewalt gegeben sein, pgo_475.041 sie ganz zu erreichen. Er muß das Naheliegende sich in eine Ferne zu rücken suchen, in pgo_475.042 der es, von Sympathieen und Antipathieen nicht berührt, nur durch seine eigene Kraft pgo_475.043 wirkt und Maaß und Schätzung nach bestimmten objectiven Gesetzen verstattet; in eine pgo_475.044 Ferne, in welcher das, was allzunah wie ein buntes, regelloses Gedränge erscheint, sich pgo_475.045 in klare, deutliche Gruppen sondert; er muß dem Historiker der Zukunft vorgreifen und pgo_475.046 eine Perspective zu gewinnen suchen, wie sie die Vergangenheit aus freien Stücken darbietet. pgo_475.047 Aber so schwer es ist, gleichzeitige Entwickelungen zu belauschen und gleichsam pgo_475.048 das Gras der Geschichte wachsen zu hören: so ist es doch noch schwerer und erfordert pgo_475.049 den feinsten kritischen Sinn und Takt, aus der noch nicht abgeschlossenen Entwickelung pgo_475.050 der Talente den Pulsschlag ihrer Zukunft herauszuhören. Denn, abgesehn von den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/497
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/497>, abgerufen am 22.11.2024.