Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_475.001 Verlag von Eduard Trewendt in Breslau. pgo_475.002 pgo_475.009Literarische Anzeige. pgo_475.003 Die deutsche Nationalliteratur pgo_475.004 in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. pgo_475.005 Literarhistorisch und kritisch dargestellt pgo_475.006 von pgo_475.007 Rudolph Gottschall. pgo_475.008 gr. 8. 74 Bogen. Eleg. brosch. Preis 5 Rthlr. [Abbildung] pgo_475.010 pgo_475.039 pgo_475.001 Verlag von Eduard Trewendt in Breslau. pgo_475.002 pgo_475.009Literarische Anzeige. pgo_475.003 Die deutsche Nationalliteratur pgo_475.004 in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. pgo_475.005 Literarhistorisch und kritisch dargestellt pgo_475.006 von pgo_475.007 Rudolph Gottschall. pgo_475.008 gr. 8. 74 Bogen. Eleg. brosch. Preis 5 Rthlr. 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Zwar die Mühseligkeiten antiquarischer <lb n="pgo_475.013"/> Forschung, welche die dichterischen Schöpfungen älterer Zeit kritisch sichten, den Zeitpunkt <lb n="pgo_475.014"/> ihrer Entstehung, die Namen ihrer Verfasser, ihrer Vorläufer und Nachfolger ermitteln <lb n="pgo_475.015"/> und gleichsam erst das Terrain für die eigentlich literarhistorischen Leistungen erobern <lb n="pgo_475.016"/> muß, liegen ihm fern; aber dieser Vortheil wird hinlänglich aufgewogen durch die <lb n="pgo_475.017"/> Schwierigkeit, das Naheliegende mit vollkommener Unbefangenheit anzuschauen und zu <lb n="pgo_475.018"/> behandeln, Richtungen, die noch in unmittelbarem Fluß und Fortgang sind, zu ordnen <lb n="pgo_475.019"/> und zu gruppiren und die hervorragenden Talente selbst, von Anfeindung und Vergötterung <lb n="pgo_475.020"/> fern, nach ihrer wahren Bedeutung zu charakterisiren. Hierzu kommt, daß die <lb n="pgo_475.021"/> heftigen politischen und religiösen Strömungen der Gegenwart so leicht den richtigen <lb n="pgo_475.022"/> Gesichtspunkt verrücken. Der Literarhistoriker, der stets den <hi rendition="#g">nationalen</hi> Standpunkt <lb n="pgo_475.023"/> festhalten will und alle Kräfte und Entwickelungen auf ihn zurückbezieht, der nicht eine <lb n="pgo_475.024"/> flache Vermittelung zwischen den sich bekämpfenden Extremen sucht, sondern in dieser <lb n="pgo_475.025"/> Ausbreitung nach allen Richtungen hin nur eine Vermehrung des geistigen Fonds der <lb n="pgo_475.026"/> Nation und ein Wachsthum ihres Ruhmes findet, muß daher eine selbstständige Schätzung <lb n="pgo_475.027"/> des Bedeutenden dem polemischen Gewirr des Tages abkämpfen. Ebenso mißlich muß <lb n="pgo_475.028"/> die Massenhaftigkeit der jüngsten Production, die gewaltig in's Kraut schießt, dem <lb n="pgo_475.029"/> Literarhistoriker erscheinen, da er hier nicht nach abschließenden Resultaten messen kann, <lb n="pgo_475.030"/> da ihm kein „fertiger“ Ruhm der Einzelnen den sichern Halt giebt, sondern eine gährende <lb n="pgo_475.031"/> Epoche voll Werdelust ihm auch nur einen werdenden und wachsenden und deshalb <lb n="pgo_475.032"/> viel bestrittenen Ruhm überliefert. Am mißlichsten aber stellt sich solchem Unternehmen <lb n="pgo_475.033"/> die viel verbreitete, von großen Autoritäten gestützte Ansicht entgegen, daß unsere <lb n="pgo_475.034"/> Nationalliteratur seit Schiller und Goethe nichts Bedeutendes hervorgebracht habe, sondern <lb n="pgo_475.035"/> sich nur in absteigender Linie fortbewege, eine Ansicht, die, wenn sie begründet wäre, <lb n="pgo_475.036"/> freilich einem Werke, wie das vorliegende, alle Bedeutung rauben müßte; denn es wäre <lb n="pgo_475.037"/> dann nur die Sisyphusarbeit, einen Stein den Berg hinaufzuwälzen, der nach dem <lb n="pgo_475.038"/> Willen des Zeus doch wieder herunterrollen muß.</p> <p><lb n="pgo_475.039"/> Mit diesen Schwierigkeiten sind aber zugleich die Ziele gesteckt, denen der Literarhistoriker <lb n="pgo_475.040"/> der Neuzeit nachzustreben hat, mag es auch nicht in seine Gewalt gegeben sein, <lb n="pgo_475.041"/> sie ganz zu erreichen. Er muß das Naheliegende sich in eine Ferne zu rücken suchen, in <lb n="pgo_475.042"/> der es, von Sympathieen und Antipathieen nicht berührt, nur durch seine eigene Kraft <lb n="pgo_475.043"/> wirkt und Maaß und Schätzung nach bestimmten objectiven Gesetzen verstattet; in eine <lb n="pgo_475.044"/> Ferne, in welcher das, was allzunah wie ein buntes, regelloses Gedränge erscheint, sich <lb n="pgo_475.045"/> in klare, deutliche Gruppen sondert; er muß dem Historiker der Zukunft vorgreifen und <lb n="pgo_475.046"/> eine Perspective zu gewinnen suchen, wie sie die Vergangenheit aus freien Stücken darbietet. <lb n="pgo_475.047"/> Aber so schwer es ist, gleichzeitige Entwickelungen zu belauschen und gleichsam <lb n="pgo_475.048"/> das Gras der Geschichte wachsen zu hören: so ist es doch noch schwerer und erfordert <lb n="pgo_475.049"/> den feinsten kritischen Sinn und Takt, aus der noch nicht abgeschlossenen Entwickelung <lb n="pgo_475.050"/> der Talente den Pulsschlag ihrer Zukunft herauszuhören. Denn, abgesehn von den </p> </div> </back> </text> </TEI> [E475/0497]
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Verlag von Eduard Trewendt in Breslau. pgo_475.002
Literarische Anzeige.
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Die deutsche Nationalliteratur pgo_475.004
in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. pgo_475.005
Literarhistorisch und kritisch dargestellt pgo_475.006
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Rudolph Gottschall. pgo_475.008
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Der Literarhistoriker, welcher die jüngste, in die unmittelbare Gegenwart hinübergreifende pgo_475.011
Epoche einer Literatur behandelt, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche die Literaturgeschichte pgo_475.012
der Vergangenheit nicht kennt. Zwar die Mühseligkeiten antiquarischer pgo_475.013
Forschung, welche die dichterischen Schöpfungen älterer Zeit kritisch sichten, den Zeitpunkt pgo_475.014
ihrer Entstehung, die Namen ihrer Verfasser, ihrer Vorläufer und Nachfolger ermitteln pgo_475.015
und gleichsam erst das Terrain für die eigentlich literarhistorischen Leistungen erobern pgo_475.016
muß, liegen ihm fern; aber dieser Vortheil wird hinlänglich aufgewogen durch die pgo_475.017
Schwierigkeit, das Naheliegende mit vollkommener Unbefangenheit anzuschauen und zu pgo_475.018
behandeln, Richtungen, die noch in unmittelbarem Fluß und Fortgang sind, zu ordnen pgo_475.019
und zu gruppiren und die hervorragenden Talente selbst, von Anfeindung und Vergötterung pgo_475.020
fern, nach ihrer wahren Bedeutung zu charakterisiren. Hierzu kommt, daß die pgo_475.021
heftigen politischen und religiösen Strömungen der Gegenwart so leicht den richtigen pgo_475.022
Gesichtspunkt verrücken. Der Literarhistoriker, der stets den nationalen Standpunkt pgo_475.023
festhalten will und alle Kräfte und Entwickelungen auf ihn zurückbezieht, der nicht eine pgo_475.024
flache Vermittelung zwischen den sich bekämpfenden Extremen sucht, sondern in dieser pgo_475.025
Ausbreitung nach allen Richtungen hin nur eine Vermehrung des geistigen Fonds der pgo_475.026
Nation und ein Wachsthum ihres Ruhmes findet, muß daher eine selbstständige Schätzung pgo_475.027
des Bedeutenden dem polemischen Gewirr des Tages abkämpfen. Ebenso mißlich muß pgo_475.028
die Massenhaftigkeit der jüngsten Production, die gewaltig in's Kraut schießt, dem pgo_475.029
Literarhistoriker erscheinen, da er hier nicht nach abschließenden Resultaten messen kann, pgo_475.030
da ihm kein „fertiger“ Ruhm der Einzelnen den sichern Halt giebt, sondern eine gährende pgo_475.031
Epoche voll Werdelust ihm auch nur einen werdenden und wachsenden und deshalb pgo_475.032
viel bestrittenen Ruhm überliefert. Am mißlichsten aber stellt sich solchem Unternehmen pgo_475.033
die viel verbreitete, von großen Autoritäten gestützte Ansicht entgegen, daß unsere pgo_475.034
Nationalliteratur seit Schiller und Goethe nichts Bedeutendes hervorgebracht habe, sondern pgo_475.035
sich nur in absteigender Linie fortbewege, eine Ansicht, die, wenn sie begründet wäre, pgo_475.036
freilich einem Werke, wie das vorliegende, alle Bedeutung rauben müßte; denn es wäre pgo_475.037
dann nur die Sisyphusarbeit, einen Stein den Berg hinaufzuwälzen, der nach dem pgo_475.038
Willen des Zeus doch wieder herunterrollen muß.
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Mit diesen Schwierigkeiten sind aber zugleich die Ziele gesteckt, denen der Literarhistoriker pgo_475.040
der Neuzeit nachzustreben hat, mag es auch nicht in seine Gewalt gegeben sein, pgo_475.041
sie ganz zu erreichen. Er muß das Naheliegende sich in eine Ferne zu rücken suchen, in pgo_475.042
der es, von Sympathieen und Antipathieen nicht berührt, nur durch seine eigene Kraft pgo_475.043
wirkt und Maaß und Schätzung nach bestimmten objectiven Gesetzen verstattet; in eine pgo_475.044
Ferne, in welcher das, was allzunah wie ein buntes, regelloses Gedränge erscheint, sich pgo_475.045
in klare, deutliche Gruppen sondert; er muß dem Historiker der Zukunft vorgreifen und pgo_475.046
eine Perspective zu gewinnen suchen, wie sie die Vergangenheit aus freien Stücken darbietet. pgo_475.047
Aber so schwer es ist, gleichzeitige Entwickelungen zu belauschen und gleichsam pgo_475.048
das Gras der Geschichte wachsen zu hören: so ist es doch noch schwerer und erfordert pgo_475.049
den feinsten kritischen Sinn und Takt, aus der noch nicht abgeschlossenen Entwickelung pgo_475.050
der Talente den Pulsschlag ihrer Zukunft herauszuhören. Denn, abgesehn von den
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