Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_470.001
Ranudo," "der Wochenstube," nicht nur eine hinlänglich spannende pgo_470.002
Jntrigue vorhanden, sondern auch die Charaktere sind mit jener humoristischen pgo_470.003
Tiefe ausgemalt, welche ihre Verkehrtheiten nicht haltlos in der pgo_470.004
Luft schweben läßt, welche sie um einen urwüchsigen Stamm des pgo_470.005
Gemüths, der aus einem Allen gemeinsamen Boden wächst, wie bizarre pgo_470.006
Schlingpflanzen windet. Jn den Sittenlustspielen, mit denen Ben pgo_470.007
Jonson
gegen die phantastische Schule Shakespeare's nach dem Muster pgo_470.008
der neuern attischen Komödie Front machte, im "Alchymisten," "Volpone" pgo_470.009
u. a. überwiegt ebenfalls die Charaktermalerei, indem besonders pgo_470.010
in dem erstern Stück die dramatischen Situationen ziemlich locker aneinandergereiht pgo_470.011
sind.

pgo_470.012
Das Charakterlustspiel, das sich bereits mit freierem Behagen, als pgo_470.013
das Jntriguenstück, den Eingebungen des Humors überlassen darf, führt pgo_470.014
zum Schwank, der Posse des bürgerlichen Lebens, wo die Handlung pgo_470.015
in die jovialsten Verwicklungen übergeht, und die Charaktere an das Burleske pgo_470.016
und Karikirte streifen. Es ist kein Zufall, daß Moliere und Holberg, pgo_470.017
die hervorragendsten Dichter des Charakterlustspiels, sich vorzugsweise pgo_470.018
auch in der Posse versucht, und besonders der erstere in seinem "Bauer pgo_470.019
als Edelmann," "Arzt wider Willen," "Georg Dandin" eine mehr pgo_470.020
markige und drastische komische Ader entwickelte, als im ernsteren Sittenlustspiele, pgo_470.021
in welches sich oft zur Unzeit ein lehrhaftes und moralisirendes pgo_470.022
Element eindrängt und die Thorheit in das Laster übergeht. Wir pgo_470.023
könnten die Posse auch in ihrer kulturhistorischen Bedeutung als das pgo_470.024
Volkslustspiel seinen feineren Gattungen gegenüberstellen; doch dieser pgo_470.025
Gegensatz, der eine literarhistorische Bedeutung hat, kann niemals eine pgo_470.026
ästhetische gewinnen, indem nur seine Aufhebung die echte Höhe der pgo_470.027
Kunst, die nur eine Nation kennt, signalisirt. Wir haben bereits oben pgo_470.028
darauf hingewiesen, wie die phantastische Zauberposse in einer Weise pgo_470.029
zu adeln sein dürfte, daß sie gleichzeitig den Anforderungen der Kunst und pgo_470.030
der Genußfähigkeit der Massen genügt. Auch der kürzere Schwank, die pgo_470.031
Farce der Franzosen, die ähnlich wie das Satyrdrama der Griechen pgo_470.032
sich an eine größere Tragödie anschließt, kann sich über den Blödsinn der pgo_470.033
Trivialität zu einer genialen Skizze erheben, welche in ihrer burlesk derben pgo_470.034
Form doch eine tiefere Bedeutung verbirgt.

pgo_470.001
Ranudo,“ „der Wochenstube,“ nicht nur eine hinlänglich spannende pgo_470.002
Jntrigue vorhanden, sondern auch die Charaktere sind mit jener humoristischen pgo_470.003
Tiefe ausgemalt, welche ihre Verkehrtheiten nicht haltlos in der pgo_470.004
Luft schweben läßt, welche sie um einen urwüchsigen Stamm des pgo_470.005
Gemüths, der aus einem Allen gemeinsamen Boden wächst, wie bizarre pgo_470.006
Schlingpflanzen windet. Jn den Sittenlustspielen, mit denen Ben pgo_470.007
Jonson
gegen die phantastische Schule Shakespeare's nach dem Muster pgo_470.008
der neuern attischen Komödie Front machte, im „Alchymisten,“ „Volponepgo_470.009
u. a. überwiegt ebenfalls die Charaktermalerei, indem besonders pgo_470.010
in dem erstern Stück die dramatischen Situationen ziemlich locker aneinandergereiht pgo_470.011
sind.

pgo_470.012
Das Charakterlustspiel, das sich bereits mit freierem Behagen, als pgo_470.013
das Jntriguenstück, den Eingebungen des Humors überlassen darf, führt pgo_470.014
zum Schwank, der Posse des bürgerlichen Lebens, wo die Handlung pgo_470.015
in die jovialsten Verwicklungen übergeht, und die Charaktere an das Burleske pgo_470.016
und Karikirte streifen. Es ist kein Zufall, daß Molière und Holberg, pgo_470.017
die hervorragendsten Dichter des Charakterlustspiels, sich vorzugsweise pgo_470.018
auch in der Posse versucht, und besonders der erstere in seinem „Bauer pgo_470.019
als Edelmann,“ „Arzt wider Willen,“ „Georg Dandin“ eine mehr pgo_470.020
markige und drastische komische Ader entwickelte, als im ernsteren Sittenlustspiele, pgo_470.021
in welches sich oft zur Unzeit ein lehrhaftes und moralisirendes pgo_470.022
Element eindrängt und die Thorheit in das Laster übergeht. Wir pgo_470.023
könnten die Posse auch in ihrer kulturhistorischen Bedeutung als das pgo_470.024
Volkslustspiel seinen feineren Gattungen gegenüberstellen; doch dieser pgo_470.025
Gegensatz, der eine literarhistorische Bedeutung hat, kann niemals eine pgo_470.026
ästhetische gewinnen, indem nur seine Aufhebung die echte Höhe der pgo_470.027
Kunst, die nur eine Nation kennt, signalisirt. Wir haben bereits oben pgo_470.028
darauf hingewiesen, wie die phantastische Zauberposse in einer Weise pgo_470.029
zu adeln sein dürfte, daß sie gleichzeitig den Anforderungen der Kunst und pgo_470.030
der Genußfähigkeit der Massen genügt. Auch der kürzere Schwank, die pgo_470.031
Farce der Franzosen, die ähnlich wie das Satyrdrama der Griechen pgo_470.032
sich an eine größere Tragödie anschließt, kann sich über den Blödsinn der pgo_470.033
Trivialität zu einer genialen Skizze erheben, welche in ihrer burlesk derben pgo_470.034
Form doch eine tiefere Bedeutung verbirgt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0492" n="470"/><lb n="pgo_470.001"/>
Ranudo,&#x201C; &#x201E;der Wochenstube,&#x201C; nicht nur eine hinlänglich spannende <lb n="pgo_470.002"/>
Jntrigue vorhanden, sondern auch die Charaktere sind mit jener humoristischen <lb n="pgo_470.003"/>
Tiefe ausgemalt, welche ihre Verkehrtheiten nicht haltlos in der <lb n="pgo_470.004"/>
Luft schweben läßt, welche sie um einen urwüchsigen Stamm des <lb n="pgo_470.005"/>
Gemüths, der aus einem Allen gemeinsamen Boden wächst, wie bizarre <lb n="pgo_470.006"/>
Schlingpflanzen windet. Jn den Sittenlustspielen, mit denen <hi rendition="#g">Ben <lb n="pgo_470.007"/>
Jonson</hi> gegen die phantastische Schule Shakespeare's nach dem Muster <lb n="pgo_470.008"/>
der neuern attischen Komödie Front machte, im &#x201E;<hi rendition="#g">Alchymisten,</hi>&#x201C; &#x201E;<hi rendition="#g">Volpone</hi>&#x201C; <lb n="pgo_470.009"/>
u. a. überwiegt ebenfalls die Charaktermalerei, indem besonders <lb n="pgo_470.010"/>
in dem erstern Stück die dramatischen Situationen ziemlich locker aneinandergereiht <lb n="pgo_470.011"/>
sind.</p>
                  <p><lb n="pgo_470.012"/>
Das Charakterlustspiel, das sich bereits mit freierem Behagen, als <lb n="pgo_470.013"/>
das Jntriguenstück, den Eingebungen des Humors überlassen darf, führt <lb n="pgo_470.014"/>
zum <hi rendition="#g">Schwank,</hi> der <hi rendition="#g">Posse</hi> des bürgerlichen Lebens, wo die Handlung <lb n="pgo_470.015"/>
in die jovialsten Verwicklungen übergeht, und die Charaktere an das Burleske <lb n="pgo_470.016"/>
und Karikirte streifen. Es ist kein Zufall, daß Molière und Holberg, <lb n="pgo_470.017"/>
die hervorragendsten Dichter des Charakterlustspiels, sich vorzugsweise <lb n="pgo_470.018"/>
auch in der <hi rendition="#g">Posse</hi> versucht, und besonders der erstere in seinem &#x201E;Bauer <lb n="pgo_470.019"/>
als Edelmann,&#x201C; &#x201E;Arzt wider Willen,&#x201C; &#x201E;Georg Dandin&#x201C; eine mehr <lb n="pgo_470.020"/>
markige und drastische komische Ader entwickelte, als im ernsteren Sittenlustspiele, <lb n="pgo_470.021"/>
in welches sich oft zur Unzeit ein lehrhaftes und moralisirendes <lb n="pgo_470.022"/>
Element eindrängt und die <hi rendition="#g">Thorheit</hi> in das <hi rendition="#g">Laster</hi> übergeht. Wir <lb n="pgo_470.023"/>
könnten die <hi rendition="#g">Posse</hi> auch in ihrer kulturhistorischen Bedeutung als das <lb n="pgo_470.024"/> <hi rendition="#g">Volkslustspiel</hi> seinen feineren Gattungen gegenüberstellen; doch dieser <lb n="pgo_470.025"/>
Gegensatz, der eine literarhistorische Bedeutung hat, kann niemals eine <lb n="pgo_470.026"/> <hi rendition="#g">ästhetische</hi> gewinnen, indem nur seine Aufhebung die echte Höhe der <lb n="pgo_470.027"/>
Kunst, die nur eine <hi rendition="#g">Nation</hi> kennt, signalisirt. Wir haben bereits oben <lb n="pgo_470.028"/>
darauf hingewiesen, wie die phantastische <hi rendition="#g">Zauberposse</hi> in einer Weise <lb n="pgo_470.029"/>
zu adeln sein dürfte, daß sie gleichzeitig den Anforderungen der Kunst und <lb n="pgo_470.030"/>
der Genußfähigkeit der Massen genügt. Auch der kürzere <hi rendition="#g">Schwank,</hi> die <lb n="pgo_470.031"/> <hi rendition="#g">Farce</hi> der Franzosen, die ähnlich wie das <hi rendition="#g">Satyrdrama</hi> der Griechen <lb n="pgo_470.032"/>
sich an eine größere Tragödie anschließt, kann sich über den Blödsinn der <lb n="pgo_470.033"/>
Trivialität zu einer genialen Skizze erheben, welche in ihrer burlesk derben <lb n="pgo_470.034"/>
Form doch eine tiefere Bedeutung verbirgt.</p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[470/0492] pgo_470.001 Ranudo,“ „der Wochenstube,“ nicht nur eine hinlänglich spannende pgo_470.002 Jntrigue vorhanden, sondern auch die Charaktere sind mit jener humoristischen pgo_470.003 Tiefe ausgemalt, welche ihre Verkehrtheiten nicht haltlos in der pgo_470.004 Luft schweben läßt, welche sie um einen urwüchsigen Stamm des pgo_470.005 Gemüths, der aus einem Allen gemeinsamen Boden wächst, wie bizarre pgo_470.006 Schlingpflanzen windet. Jn den Sittenlustspielen, mit denen Ben pgo_470.007 Jonson gegen die phantastische Schule Shakespeare's nach dem Muster pgo_470.008 der neuern attischen Komödie Front machte, im „Alchymisten,“ „Volpone“ pgo_470.009 u. a. überwiegt ebenfalls die Charaktermalerei, indem besonders pgo_470.010 in dem erstern Stück die dramatischen Situationen ziemlich locker aneinandergereiht pgo_470.011 sind. pgo_470.012 Das Charakterlustspiel, das sich bereits mit freierem Behagen, als pgo_470.013 das Jntriguenstück, den Eingebungen des Humors überlassen darf, führt pgo_470.014 zum Schwank, der Posse des bürgerlichen Lebens, wo die Handlung pgo_470.015 in die jovialsten Verwicklungen übergeht, und die Charaktere an das Burleske pgo_470.016 und Karikirte streifen. Es ist kein Zufall, daß Molière und Holberg, pgo_470.017 die hervorragendsten Dichter des Charakterlustspiels, sich vorzugsweise pgo_470.018 auch in der Posse versucht, und besonders der erstere in seinem „Bauer pgo_470.019 als Edelmann,“ „Arzt wider Willen,“ „Georg Dandin“ eine mehr pgo_470.020 markige und drastische komische Ader entwickelte, als im ernsteren Sittenlustspiele, pgo_470.021 in welches sich oft zur Unzeit ein lehrhaftes und moralisirendes pgo_470.022 Element eindrängt und die Thorheit in das Laster übergeht. Wir pgo_470.023 könnten die Posse auch in ihrer kulturhistorischen Bedeutung als das pgo_470.024 Volkslustspiel seinen feineren Gattungen gegenüberstellen; doch dieser pgo_470.025 Gegensatz, der eine literarhistorische Bedeutung hat, kann niemals eine pgo_470.026 ästhetische gewinnen, indem nur seine Aufhebung die echte Höhe der pgo_470.027 Kunst, die nur eine Nation kennt, signalisirt. Wir haben bereits oben pgo_470.028 darauf hingewiesen, wie die phantastische Zauberposse in einer Weise pgo_470.029 zu adeln sein dürfte, daß sie gleichzeitig den Anforderungen der Kunst und pgo_470.030 der Genußfähigkeit der Massen genügt. Auch der kürzere Schwank, die pgo_470.031 Farce der Franzosen, die ähnlich wie das Satyrdrama der Griechen pgo_470.032 sich an eine größere Tragödie anschließt, kann sich über den Blödsinn der pgo_470.033 Trivialität zu einer genialen Skizze erheben, welche in ihrer burlesk derben pgo_470.034 Form doch eine tiefere Bedeutung verbirgt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/492
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/492>, abgerufen am 22.11.2024.