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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Literatur" hinwies, hat neuerdings Vischer im letzten Hefte seiner pgo_454.002
Aesthetik auf das Klarste und Bestimmteste ausgesprochen: "Shakespeare's pgo_454.003
Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des pgo_454.004
Antiken.
" Jn der That bewegen sich um diesen Punkt die Schiller'- pgo_454.005
schen und Göthe'schen Tragödieen, bald mehr nach der einen, bald mehr pgo_454.006
nach der andern Seite sich neigend. Die schönste Mitte hat Schiller pgo_454.007
im "Wallenstein" und in der "Maria Stuart" erreicht. Die individuelle pgo_454.008
Kraft der Charakteristik, der scharf bestimmte und mannichfach gefärbte pgo_454.009
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Leidenschaft, die sinn- und gedankenreiche Darstellung der Menschenwelt pgo_454.011
von Shakespeare, ohne die Formlosigkeiten seiner Komposition, die pgo_454.012
oft schwülstige Bizarrerie seines Ausdruckes, die Uebertreibungen und pgo_454.013
Geschmacklosigkeiten seiner Epoche; die Harmonie und Klarheit des pgo_454.014
Styles, den künstlerischen Adel der Form, die fesselnde Einheit der pgo_454.015
Handlung von der antiken Tragödie ohne ihre engen Beschränkungen pgo_454.016
in Zeit und Ort, ohne den unorganischen "Chor," ohne ihre zu plastisch pgo_454.017
allgemeine Haltung, ohne ihre mythischen Stoffe und fatalistische Tendenz pgo_454.018
-- das ist das Erbe der echten Kunstform, das unsere neuere Tragödie pgo_454.019
anzutreten hat und auch anzutreten sucht, und das der echte Genius, pgo_454.020
der im Mittelpunkte unserer Bildung steht, aus sich selbst hervorbringt. pgo_454.021
Nach dem Jnhalte ist die moderne Tragödie eine historische oder bürgerliche. pgo_454.022
Die Aufgabe der Gegenwart ist, die historische Tragödie pgo_454.023
zur politischen, die bürgerliche zur socialen zur erheben. Wir verstehn pgo_454.024
hier das Wort "politisch" nicht im Sinne der Tagestendenzen, pgo_454.025
sondern wir meinen damit nur, daß der Stoff einer geschichtlichen Tragödie pgo_454.026
sich um staatliche Konflikte drehe, welche von Jnteresse für die pgo_454.027
Gegenwart sind, daß man nicht historische Stoffe aus der Zeit Attila's pgo_454.028
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Epochen, die unserer Zeit nahe verwandt sind, oder in denen sie unmittelbar pgo_454.030
wurzelt. "Die Perser" des Aeschylos, "Heinrich VIII." von pgo_454.031
Shakespeare, "der Sieg des Marquis von Santa Cruz" von Lope pgo_454.032
(bei dem der Dichter selbst betheiligt war) beweisen, daß auch die Nähe pgo_454.033
der Zeit
große Dichter von der Wahl solcher Stoffe nicht abschreckte! pgo_454.034
Und wir möchten dies Vorrecht mit besonderer Betonung für die Tragödie pgo_454.035
der Gegenwart in Anspruch nehmen. Die bürgerliche Tragödie

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/476>, abgerufen am 22.11.2024.