Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_449.001 pgo_449.011 pgo_449.001 pgo_449.011 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0471" n="449"/><lb n="pgo_449.001"/> Mahomet, Mérope u. a.), dessen Beruf zur Tragödie ein sehr geringer <lb n="pgo_449.002"/> war, interessirt die Unterwürfigkeit eines kecken, frivolen, Staat und <lb n="pgo_449.003"/> Kirche unterwühlenden Talentes unter die Normen einer dramatischen <lb n="pgo_449.004"/> Form, die ihm fester zu stehn schien, als die heiligsten Autoritäten der <lb n="pgo_449.005"/> Gesellschaft. <hi rendition="#g">Crébillon,</hi> nach der grausamen und gräßlichen Seite <lb n="pgo_449.006"/> hin übertreibend, <hi rendition="#g">Thomas Corneille, Lémierre,</hi> (Hypermenestra), <lb n="pgo_449.007"/> <hi rendition="#g">Marie Joseph de Chénier, de la Harpe,</hi> die beiden <hi rendition="#g">Arnault,</hi> <lb n="pgo_449.008"/> zum Theil <hi rendition="#g">Delavigne</hi> und <hi rendition="#g">Ponsard</hi> setzten in ihren Stücken diese <lb n="pgo_449.009"/> klassische Tradition durch die Zeiten des <foreign xml:lang="fra">ancien régime</foreign>, der Republik, <lb n="pgo_449.010"/> des Kaiserreichs und der Restauration bis auf die neueste fort.</p> <p><lb n="pgo_449.011"/> Jn Deutschland hatte <hi rendition="#g">Lessing</hi> zwar die französische Auslegung des <lb n="pgo_449.012"/> Aristoteles gebrochen und die Nachahmungen eines Corneille und Racine <lb n="pgo_449.013"/> ihres Werthes entkleidet; doch die ursprünglich antike Tragödie wirkte als <lb n="pgo_449.014"/> bedeutsames Bildungselement unserer Tragiker fort. <hi rendition="#g">Schiller</hi> übersetzte <lb n="pgo_449.015"/> die „Jphigenie in Aulis“ des Euripides; <hi rendition="#g">Goethe</hi> behandelte die <lb n="pgo_449.016"/> „Jphigenie in Tauris“ in einer meisterhaften, das Antike und Moderne <lb n="pgo_449.017"/> versöhnenden Nachbildung. Jn der „Braut von Messina“ versuchte <lb n="pgo_449.018"/> Schiller, den antiken Chor wiedereinzuführen und zugleich die Schicksalsidee <lb n="pgo_449.019"/> der Hellenen zur Seele der modernen Tragödie zu machen, ein Versuch, <lb n="pgo_449.020"/> der nach beiden Seiten hin mißlang, nach der letzteren aber in <lb n="pgo_449.021"/> <hi rendition="#g">Werner's</hi> „vierundzwanzigstem Februar,“ <hi rendition="#g">Müllner's</hi> „Schuld,“ <lb n="pgo_449.022"/> <hi rendition="#g">Grillparzer's</hi> „Ahnfrau,“ <hi rendition="#g">Houwald's</hi> „Bild“ Nachahmer fand, <lb n="pgo_449.023"/> welche eine Zeitlang die Bühne beherrschten. Die Schicksalsidee der <lb n="pgo_449.024"/> Alten ist von <hi rendition="#g">Hegel</hi> an verschiedenen Stellen mit philosophischer Tiefe <lb n="pgo_449.025"/> dargelegt! Doch würde eine genauere Betrachtung der antiken Tragödie <lb n="pgo_449.026"/> wohl eine mannichfachere Gestalt und Anschauung des Schicksals bieten, <lb n="pgo_449.027"/> als sie jene vorzugsweise auf den Oedipus und die Orestie passende <lb n="pgo_449.028"/> Erklärung Hegel's bietet! Der „Prometheus“ des Aeschylos, der „Ajas“ <lb n="pgo_449.029"/> und die „Antigone“ des Sophokles, die „Medea“ und „Phädra“ des <lb n="pgo_449.030"/> Euripides fallen unter ganz andere Gesichtspunkte. Jenes „Schicksal“ <lb n="pgo_449.031"/> des Oedipus, welches blind den Helden, der seine Räthsel zu spät löst, in <lb n="pgo_449.032"/> den Abgrund stürzt, das Schicksal der Atriden, welches dies Geschlecht <lb n="pgo_449.033"/> in eine Reihe blutiger Verbrechen verstrickt, wurde nun in die Romantik <lb n="pgo_449.034"/> eines Familienschicksals übersetzt, das den Einzelnen unabwendbar <lb n="pgo_449.035"/> beherrscht und in's Verderben treibt. Der Zufall eines Datums, eines </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [449/0471]
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Mahomet, Mérope u. a.), dessen Beruf zur Tragödie ein sehr geringer pgo_449.002
war, interessirt die Unterwürfigkeit eines kecken, frivolen, Staat und pgo_449.003
Kirche unterwühlenden Talentes unter die Normen einer dramatischen pgo_449.004
Form, die ihm fester zu stehn schien, als die heiligsten Autoritäten der pgo_449.005
Gesellschaft. Crébillon, nach der grausamen und gräßlichen Seite pgo_449.006
hin übertreibend, Thomas Corneille, Lémierre, (Hypermenestra), pgo_449.007
Marie Joseph de Chénier, de la Harpe, die beiden Arnault, pgo_449.008
zum Theil Delavigne und Ponsard setzten in ihren Stücken diese pgo_449.009
klassische Tradition durch die Zeiten des ancien régime, der Republik, pgo_449.010
des Kaiserreichs und der Restauration bis auf die neueste fort.
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Jn Deutschland hatte Lessing zwar die französische Auslegung des pgo_449.012
Aristoteles gebrochen und die Nachahmungen eines Corneille und Racine pgo_449.013
ihres Werthes entkleidet; doch die ursprünglich antike Tragödie wirkte als pgo_449.014
bedeutsames Bildungselement unserer Tragiker fort. Schiller übersetzte pgo_449.015
die „Jphigenie in Aulis“ des Euripides; Goethe behandelte die pgo_449.016
„Jphigenie in Tauris“ in einer meisterhaften, das Antike und Moderne pgo_449.017
versöhnenden Nachbildung. Jn der „Braut von Messina“ versuchte pgo_449.018
Schiller, den antiken Chor wiedereinzuführen und zugleich die Schicksalsidee pgo_449.019
der Hellenen zur Seele der modernen Tragödie zu machen, ein Versuch, pgo_449.020
der nach beiden Seiten hin mißlang, nach der letzteren aber in pgo_449.021
Werner's „vierundzwanzigstem Februar,“ Müllner's „Schuld,“ pgo_449.022
Grillparzer's „Ahnfrau,“ Houwald's „Bild“ Nachahmer fand, pgo_449.023
welche eine Zeitlang die Bühne beherrschten. Die Schicksalsidee der pgo_449.024
Alten ist von Hegel an verschiedenen Stellen mit philosophischer Tiefe pgo_449.025
dargelegt! Doch würde eine genauere Betrachtung der antiken Tragödie pgo_449.026
wohl eine mannichfachere Gestalt und Anschauung des Schicksals bieten, pgo_449.027
als sie jene vorzugsweise auf den Oedipus und die Orestie passende pgo_449.028
Erklärung Hegel's bietet! Der „Prometheus“ des Aeschylos, der „Ajas“ pgo_449.029
und die „Antigone“ des Sophokles, die „Medea“ und „Phädra“ des pgo_449.030
Euripides fallen unter ganz andere Gesichtspunkte. Jenes „Schicksal“ pgo_449.031
des Oedipus, welches blind den Helden, der seine Räthsel zu spät löst, in pgo_449.032
den Abgrund stürzt, das Schicksal der Atriden, welches dies Geschlecht pgo_449.033
in eine Reihe blutiger Verbrechen verstrickt, wurde nun in die Romantik pgo_449.034
eines Familienschicksals übersetzt, das den Einzelnen unabwendbar pgo_449.035
beherrscht und in's Verderben treibt. Der Zufall eines Datums, eines
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