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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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in die schöne Mitte der griechischen Tragödie. Eine sittliche Rührung, pgo_446.002
eine milde Versöhnung durchweht seine Schöpfungen -- wir erinnern nur pgo_446.003
an jene dramatische Weihehymne, den "Oedipus auf Kolonos." pgo_446.004
Selbst für die wildtobende Leidenschaft, wie im Ajas, findet seine maaßvolle pgo_446.005
Phantasie eine harmonisch schöne Form. Meisterhaft durchgeführt pgo_446.006
ist die tragische Kollision in der "Antigone," die Heldin selbst eine pgo_446.007
Gestalt edelster Weiblichkeit. Dabei zeigt die dramatische Technik die pgo_446.008
größten Fortschritte gegen Aeschylos -- die Handlung entwickelt sich Scene pgo_446.009
für Scene in nothwendigem und spannendem Fortgang weiter, der Chor pgo_446.010
ist von ihrem Pathos lebendig durchdrungen und verliert sich nicht in pgo_446.011
weitabführende Betrachtungen. Die Sprache ist rein, klar, von edelster pgo_446.012
Haltung und harmonischer Rhythmik. Der dritte große Tragiker, Euripides, pgo_446.013
verließ die harmonische Mitte des Menschlichen und Göttlichen, pgo_446.014
die den Sophokles charakterisirt! Während bei Aeschylos der Schwerpunkt pgo_446.015
der Handlung auf die Seite der göttlichen Mächte fällt: wird pgo_446.016
bei Euripides das Göttliche bereits zur todten Maschinerie des Drama, pgo_446.017
und die freie Jndividualität des Menschen entwickelt sich bis zur wildesten pgo_446.018
Leidenschaft, welche den Boden der antiken Welt verläßt. Besonders pgo_446.019
seine Heldinnen, seine "Medea," "Phädra" u. s. w. entwickeln eine pgo_446.020
dämonische Weiblichkeit, welche ganz in das Moderne hinüberspielt. pgo_446.021
Kein größerer Gegensatz, als die "Medea" des Euripides und die "Antigone" pgo_446.022
des Sophokles. Man sollte glauben, daß ein Weltalter zwischen pgo_446.023
diesen weiblichen Gestalten liegt, von denen die letztere das rein sittliche pgo_446.024
Jdeal eines für das heilige Gesetz der Familie, für die reinen Empfindungen pgo_446.025
der Pietät sich opfernden Weibes repräsentirt, während die erstere, pgo_446.026
auf's Schärfste bestimmt in ihrer charakteristischen Zeichnung als Kolcherin pgo_446.027
und barbarische Zauberin, den glühendsten Rachedurst verlassener Liebe pgo_446.028
in blutigen Thaten kühlt, bis sie auf ihrem Drachenwagen in die Luft pgo_446.029
entschwindet. Die Sprache des Euripides vertauscht ebenfalls das pgo_446.030
harmonische Maaß des Sophokles mit den wilden Ergüssen entfesselter pgo_446.031
Leidenschaftlichkeit, deren dämonischer Taumel oft zur Unzeit von kalten pgo_446.032
Sprüchen der Lebensweisheit unterbrochen wird, die mit dem Anspruche pgo_446.033
selbstständiger Bedeutung auftreten *). An Euripides vorzugsweise

*) pgo_446.034
Von den 75 Stücken des Euripides sind uns 18 erhalten: Elektra, Orestes, pgo_446.035
Jphigenia in Aulis, Jphigenia in Tauris, Alkestis, Helena, Hekabe,

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[446/0468] pgo_446.001 in die schöne Mitte der griechischen Tragödie. Eine sittliche Rührung, pgo_446.002 eine milde Versöhnung durchweht seine Schöpfungen — wir erinnern nur pgo_446.003 an jene dramatische Weihehymne, den „Oedipus auf Kolonos.“ pgo_446.004 Selbst für die wildtobende Leidenschaft, wie im Ajas, findet seine maaßvolle pgo_446.005 Phantasie eine harmonisch schöne Form. Meisterhaft durchgeführt pgo_446.006 ist die tragische Kollision in der „Antigone,“ die Heldin selbst eine pgo_446.007 Gestalt edelster Weiblichkeit. Dabei zeigt die dramatische Technik die pgo_446.008 größten Fortschritte gegen Aeschylos — die Handlung entwickelt sich Scene pgo_446.009 für Scene in nothwendigem und spannendem Fortgang weiter, der Chor pgo_446.010 ist von ihrem Pathos lebendig durchdrungen und verliert sich nicht in pgo_446.011 weitabführende Betrachtungen. Die Sprache ist rein, klar, von edelster pgo_446.012 Haltung und harmonischer Rhythmik. Der dritte große Tragiker, Euripides, pgo_446.013 verließ die harmonische Mitte des Menschlichen und Göttlichen, pgo_446.014 die den Sophokles charakterisirt! Während bei Aeschylos der Schwerpunkt pgo_446.015 der Handlung auf die Seite der göttlichen Mächte fällt: wird pgo_446.016 bei Euripides das Göttliche bereits zur todten Maschinerie des Drama, pgo_446.017 und die freie Jndividualität des Menschen entwickelt sich bis zur wildesten pgo_446.018 Leidenschaft, welche den Boden der antiken Welt verläßt. Besonders pgo_446.019 seine Heldinnen, seine „Medea,“ „Phädra“ u. s. w. entwickeln eine pgo_446.020 dämonische Weiblichkeit, welche ganz in das Moderne hinüberspielt. pgo_446.021 Kein größerer Gegensatz, als die „Medea“ des Euripides und die „Antigone“ pgo_446.022 des Sophokles. Man sollte glauben, daß ein Weltalter zwischen pgo_446.023 diesen weiblichen Gestalten liegt, von denen die letztere das rein sittliche pgo_446.024 Jdeal eines für das heilige Gesetz der Familie, für die reinen Empfindungen pgo_446.025 der Pietät sich opfernden Weibes repräsentirt, während die erstere, pgo_446.026 auf's Schärfste bestimmt in ihrer charakteristischen Zeichnung als Kolcherin pgo_446.027 und barbarische Zauberin, den glühendsten Rachedurst verlassener Liebe pgo_446.028 in blutigen Thaten kühlt, bis sie auf ihrem Drachenwagen in die Luft pgo_446.029 entschwindet. Die Sprache des Euripides vertauscht ebenfalls das pgo_446.030 harmonische Maaß des Sophokles mit den wilden Ergüssen entfesselter pgo_446.031 Leidenschaftlichkeit, deren dämonischer Taumel oft zur Unzeit von kalten pgo_446.032 Sprüchen der Lebensweisheit unterbrochen wird, die mit dem Anspruche pgo_446.033 selbstständiger Bedeutung auftreten *). An Euripides vorzugsweise *) pgo_446.034 Von den 75 Stücken des Euripides sind uns 18 erhalten: Elektra, Orestes, pgo_446.035 Jphigenia in Aulis, Jphigenia in Tauris, Alkestis, Helena, Hekabe,

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/468>, abgerufen am 22.11.2024.