pgo_024.001 Hier kommt das Einzelne zum ersten Male zu seinem vollen Rechte. pgo_024.002 Die Jdee des Guten und Wahren triumphirt nur, wenn das Einzelne pgo_024.003 vernichtet wird. Der Gedanke verlangt, daß das Einzelne sich auflöse pgo_024.004 in's Allgemeine, in den Begriff; die Sittlichkeit, daß das Einzelne sich pgo_024.005 dem Allgemeinen opfere. Das Schöne erst giebt dem Einzelnen die volle pgo_024.006 Kraft und Weihe der Eigenthümlichkeit; es macht das Einzelne zum pgo_024.007 Träger der Jdee. Wie wir später sehen werden, ist auch der Geist pgo_024.008 des Künstlers, der es producirt, der Genius, die Spitze der geistigen Einzelnheit, pgo_024.009 das Einzelne als Einziges. Darum auch konnte Plato von pgo_024.010 der Liebe sprechen, mit der wir das Schöne erfassen; denn wir lieben pgo_024.011 immer nur das Einzelne, in welchem wir das Urbild der Seele schauen.
pgo_024.012 Doch die einzelne Erscheinung in ihrer Stoffschwere kann das Schöne pgo_024.013 nicht spiegeln; hier würde wieder die Welt der Zufälligkeit das Jdeal pgo_024.014 vernichten. Der sinnliche Stoff muß im Feuer der Jdee verzehrt sein; pgo_024.015 Nichts übrig bleiben, als ein über ihm schwebender sinnlicher Schein, als pgo_024.016 die reine Form. Schiller sagt: "das Kunstgeheimniß des Meisters pgo_024.017 besteht darin, daß er den Stoff durch die Form vertilgt." Die Jdee pgo_024.018 wird Gestalt, die Gestalt Jdee -- das ist das Wesen des Schönen.
pgo_024.019 Doch die Jdee des Schönen ist nicht starr und bewegungslos; sie ist pgo_024.020 kein todter Begriff! Lebendig und schöpferisch erträgt sie in sich den pgo_024.021 Widerspruch, den Kampf, läßt die Dissonanzen frei gewähren und rettet pgo_024.022 doch ihre ewige Harmonie. Die Jdee ist Thätigkeit und Bewegung -- pgo_024.023 das Schöne in seiner Bewegung ist Anmuth. Man darf die Anmuthpgo_024.024 nicht mit Lessing und Schiller auf die menschliche Schönheit beschränken, pgo_024.025 wenn sie sich auch hier am klarsten ankündigt in jenen sympathetischen pgo_024.026 Bewegungen, welche unwillkürlich die willkürlichen begleiten; pgo_024.027 überall dämmert die Anmuth empor, wo die Linien der Schönheit, von pgo_024.028 starrer Gebundenheit befreit, zu erzittern beginnen. Am schlagendsten pgo_024.029 und schönsten hat Schelling in seiner Rede: "Ueber das Verhältniß der pgo_024.030 bildenden Künste zur Natur" das Wesen der Anmuth ausgesprochen, wo pgo_024.031 er sie historisch als eine Entwickelungsstufe der Kunst darstellt: "Jm pgo_024.032 Beginn erscheint der schaffende Geist ganz verloren in die Form, unzugänglich, pgo_024.033 verschlossen und selbst im Großen noch herb. Je mehr es ihm pgo_024.034 aber gelingt, seine ganze Fülle in Einem Geschöpf zu vereinigen, desto pgo_024.035 mehr läßt er allmählich von seiner Strenge nach, und wo er die Form
pgo_024.001 Hier kommt das Einzelne zum ersten Male zu seinem vollen Rechte. pgo_024.002 Die Jdee des Guten und Wahren triumphirt nur, wenn das Einzelne pgo_024.003 vernichtet wird. Der Gedanke verlangt, daß das Einzelne sich auflöse pgo_024.004 in's Allgemeine, in den Begriff; die Sittlichkeit, daß das Einzelne sich pgo_024.005 dem Allgemeinen opfere. Das Schöne erst giebt dem Einzelnen die volle pgo_024.006 Kraft und Weihe der Eigenthümlichkeit; es macht das Einzelne zum pgo_024.007 Träger der Jdee. Wie wir später sehen werden, ist auch der Geist pgo_024.008 des Künstlers, der es producirt, der Genius, die Spitze der geistigen Einzelnheit, pgo_024.009 das Einzelne als Einziges. Darum auch konnte Plato von pgo_024.010 der Liebe sprechen, mit der wir das Schöne erfassen; denn wir lieben pgo_024.011 immer nur das Einzelne, in welchem wir das Urbild der Seele schauen.
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pgo_024.019 Doch die Jdee des Schönen ist nicht starr und bewegungslos; sie ist pgo_024.020 kein todter Begriff! Lebendig und schöpferisch erträgt sie in sich den pgo_024.021 Widerspruch, den Kampf, läßt die Dissonanzen frei gewähren und rettet pgo_024.022 doch ihre ewige Harmonie. Die Jdee ist Thätigkeit und Bewegung — pgo_024.023 das Schöne in seiner Bewegung ist Anmuth. Man darf die Anmuthpgo_024.024 nicht mit Lessing und Schiller auf die menschliche Schönheit beschränken, pgo_024.025 wenn sie sich auch hier am klarsten ankündigt in jenen sympathetischen pgo_024.026 Bewegungen, welche unwillkürlich die willkürlichen begleiten; pgo_024.027 überall dämmert die Anmuth empor, wo die Linien der Schönheit, von pgo_024.028 starrer Gebundenheit befreit, zu erzittern beginnen. Am schlagendsten pgo_024.029 und schönsten hat Schelling in seiner Rede: „Ueber das Verhältniß der pgo_024.030 bildenden Künste zur Natur“ das Wesen der Anmuth ausgesprochen, wo pgo_024.031 er sie historisch als eine Entwickelungsstufe der Kunst darstellt: „Jm pgo_024.032 Beginn erscheint der schaffende Geist ganz verloren in die Form, unzugänglich, pgo_024.033 verschlossen und selbst im Großen noch herb. Je mehr es ihm pgo_024.034 aber gelingt, seine ganze Fülle in Einem Geschöpf zu vereinigen, desto pgo_024.035 mehr läßt er allmählich von seiner Strenge nach, und wo er die Form
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/46>, abgerufen am 27.11.2024.
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