pgo_435.001 Natur, deren Nothwendigkeit sich im einzelnen Falle als Zufall offenbart, pgo_435.002 seine Stelle findet. Der Untergang eines Schiffbrüchigen ist tragisch im pgo_435.003 Sinne des Epos, nicht im Sinne des Drama. Das Tragische des pgo_435.004 Drama ist das sittlich Erhabene, sein Held kämpft gegen die bestehende pgo_435.005 sittliche Weltordnung; der einzelne Charakter erhebt sich zu voller Größe pgo_435.006 und Entfaltung, aber so erscheint er maaßlos gegenüber dem Maaß pgo_435.007 der bestehenden Welt, deren Ordnung er entweder im Sturme der Leidenschaft pgo_435.008 durchbricht, oder mit bewußtem Pathos erschüttert. Wir dürfen pgo_435.009 zwei Formen des dramatisch Tragischen unterscheiden: das Tragische des pgo_435.010 einfachen Konflikts und das Tragische der sittlichen Kollision.pgo_435.011 Jenes beruht vorzugsweise auf dem Charakter, dies vorzugsweise auf pgo_435.012 der Situation. Jn jenem schafft der Charakter die Situation, in pgo_435.013 diesem entwickelt die Situation den Charakter. Auch die antike Tragödie pgo_435.014 kannte bereits beide Formen, und wenn man unterschiedslos von der pgo_435.015 Schicksalstragödie der Griechen spricht, erschöpft man keineswegs ihr pgo_435.016 innerstes Wesen und vergißt, daß alle Keime der modernen Tragödie pgo_435.017 bereits in ihr enthalten sind. Das Tragische des einfachen Konfliktespgo_435.018 beruht darauf, daß der Charakter durch seine Fehler (amartia pgo_435.019 tis, Arist.) in Kampf mit der Welt und dem Schicksal geräth und in pgo_435.020 diesem Kampf untergeht. Aristoteles schließt die ganz guten und ganz pgo_435.021 schlechten Charaktere von der Tragödie aus. Wir erweitern seine pgo_435.022 "amartia" dahin, daß diese Fehler des Helden zugleich seine Vorzüge sein pgo_435.023 müssen, daß seine Schwäche zugleich seine Kraft ist. Jeder einzelne pgo_435.024 Charakter hat seine eigene Tragik, die in dem dunkeln, unüberwundenen pgo_435.025 Urgrund einer Nothwendigkeit liegt, welche auch seine freien Entschlüsse pgo_435.026 bestimmt. Es ist dies die Tragik der Prädestination, das Problem pgo_435.027 ihrer Verkettung mit der freien Selbstbestimmung. Dramatisch wird sie pgo_435.028 nur durch die Energie, mit welcher der Charakter seine eigenen Konsequenzen pgo_435.029 in entscheidenden Thaten zieht. Der "rasende Ajax" des Sophokles, pgo_435.030 die wilde "Medea" des Euripides sind in ihrem tiefsten Grunde pgo_435.031 solche Charaktertragödieen und, wenn man von der antiken, unentwickelten pgo_435.032 Einfachheit der Form absieht, von den gigantischen Charaktergemälden pgo_435.033 Shakespeare's, einem Macbeth, Lear, Othello, Richard III., dem Wesen pgo_435.034 nach wenig verschieden. Es ist nicht schwer, bei diesen Helden Shakespeare's pgo_435.035 die amartia nachzuweisen, die zu ihrem tragischen Verhängniß
pgo_435.001 Natur, deren Nothwendigkeit sich im einzelnen Falle als Zufall offenbart, pgo_435.002 seine Stelle findet. Der Untergang eines Schiffbrüchigen ist tragisch im pgo_435.003 Sinne des Epos, nicht im Sinne des Drama. Das Tragische des pgo_435.004 Drama ist das sittlich Erhabene, sein Held kämpft gegen die bestehende pgo_435.005 sittliche Weltordnung; der einzelne Charakter erhebt sich zu voller Größe pgo_435.006 und Entfaltung, aber so erscheint er maaßlos gegenüber dem Maaß pgo_435.007 der bestehenden Welt, deren Ordnung er entweder im Sturme der Leidenschaft pgo_435.008 durchbricht, oder mit bewußtem Pathos erschüttert. Wir dürfen pgo_435.009 zwei Formen des dramatisch Tragischen unterscheiden: das Tragische des pgo_435.010 einfachen Konflikts und das Tragische der sittlichen Kollision.pgo_435.011 Jenes beruht vorzugsweise auf dem Charakter, dies vorzugsweise auf pgo_435.012 der Situation. Jn jenem schafft der Charakter die Situation, in pgo_435.013 diesem entwickelt die Situation den Charakter. Auch die antike Tragödie pgo_435.014 kannte bereits beide Formen, und wenn man unterschiedslos von der pgo_435.015 Schicksalstragödie der Griechen spricht, erschöpft man keineswegs ihr pgo_435.016 innerstes Wesen und vergißt, daß alle Keime der modernen Tragödie pgo_435.017 bereits in ihr enthalten sind. Das Tragische des einfachen Konfliktespgo_435.018 beruht darauf, daß der Charakter durch seine Fehler (ἁμαρτὶα pgo_435.019 τὶς, Arist.) in Kampf mit der Welt und dem Schicksal geräth und in pgo_435.020 diesem Kampf untergeht. Aristoteles schließt die ganz guten und ganz pgo_435.021 schlechten Charaktere von der Tragödie aus. Wir erweitern seine pgo_435.022 „ἁμαρτὶα“ dahin, daß diese Fehler des Helden zugleich seine Vorzüge sein pgo_435.023 müssen, daß seine Schwäche zugleich seine Kraft ist. Jeder einzelne pgo_435.024 Charakter hat seine eigene Tragik, die in dem dunkeln, unüberwundenen pgo_435.025 Urgrund einer Nothwendigkeit liegt, welche auch seine freien Entschlüsse pgo_435.026 bestimmt. Es ist dies die Tragik der Prädestination, das Problem pgo_435.027 ihrer Verkettung mit der freien Selbstbestimmung. Dramatisch wird sie pgo_435.028 nur durch die Energie, mit welcher der Charakter seine eigenen Konsequenzen pgo_435.029 in entscheidenden Thaten zieht. Der „rasende Ajax“ des Sophokles, pgo_435.030 die wilde „Medea“ des Euripides sind in ihrem tiefsten Grunde pgo_435.031 solche Charaktertragödieen und, wenn man von der antiken, unentwickelten pgo_435.032 Einfachheit der Form absieht, von den gigantischen Charaktergemälden pgo_435.033 Shakespeare's, einem Macbeth, Lear, Othello, Richard III., dem Wesen pgo_435.034 nach wenig verschieden. Es ist nicht schwer, bei diesen Helden Shakespeare's pgo_435.035 die ἁμαρτὶα nachzuweisen, die zu ihrem tragischen Verhängniß
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/457>, abgerufen am 25.11.2024.
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