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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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dramatische Tempo bezeichnen, läßt sich vollständig nur durch einen pgo_424.002
Blick auf das Schachspiel klar machen. Hier kommt es nicht nur darauf pgo_424.003
an, daß der richtige Zug gemacht werde, sondern auch, daß er zur pgo_424.004
rechten Zeit geschehe. Derselbe Zug ein Tempo später würde das pgo_424.005
Spiel verlieren, das er ein Tempo früher gewonnen hätte. Ganz pgo_424.006
ebenso verhält es sich im Drama. Es ist nicht gleichgültig, wann eine pgo_424.007
Person in die Handlung eingreift, wann eine oder die andere Scene eingefügt pgo_424.008
wird, wann eine Krise oder Katastrophe eintritt -- ein Tempo pgo_424.009
früher oder später macht einen großen Unterschied für die mehr oder minder pgo_424.010
energische Entwickelung der Handlung. Der Schluß des Drama ist pgo_424.011
am glücklichsten herbeigeführt, wenn er, ähnlich einem Schachräthsel, mit pgo_424.012
logischer Nothwendigkeit in eine bestimmte Zahl von Zügen die letzte pgo_424.013
Entscheidung zusammendrängt. Je kühner und überraschender diese letzten pgo_424.014
Züge, desto glänzender die Auflösung des Räthsels und der Abschluß des pgo_424.015
Drama. Die Gliederung des dramatischen Organismus in Akte pgo_424.016
und Scenen kann keine willkürliche sein, sondern nur eine nothwendige. pgo_424.017
Da er Dramatiker seinen Stoff nicht nach Behagen und Laune pgo_424.018
vertheilen darf, sondern seiner innern Schwerkraft gehorchen muß, die den pgo_424.019
Schwerpunkt der Handlung von selbst an eine bestimmte Stelle verlegt: pgo_424.020
so wird nicht nur jeder Akt, sondern auch jede Scene sowohl ihre selbstständige pgo_424.021
Bedeutung, als auch eine Bedeutung für den Organismus des pgo_424.022
Ganzen haben müssen. Wie dieser muß jeder Akt und jede Scene pgo_424.023
Anfang, Mitte und Schluß, ihren dialektischen Verlauf haben.

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Die Scene wird durch das Auftreten einer neuen Person bedingt. pgo_424.025
Man hat zwar, nach dem Vorgange der altenglischen Bühne, auch mit pgo_424.026
dem Ausdrucke "Scene" jede Verwandlung des Theaters bezeichnet, pgo_424.027
mögen nun mehr oder weniger Personen innerhalb derselben auftreten. pgo_424.028
Doch in der Regel gebraucht man Scene und Auftritt in gleicher pgo_424.029
Bedeutung. Jede auftretende Person muß einen bestimmten in die pgo_424.030
Handlung eingreifenden Zweck haben; es soll in einem Drama keine pgo_424.031
müßigen Scenen geben; es sollen keine Personen auftreten ohne einen pgo_424.032
vollkommen klaren und bestimmten Grund. Die Scene muß äußerlich pgo_424.033
und innerlich motivirt sein. Die auftretende Person bringt ein neues pgo_424.034
Moment in die Handlung, welches sich im Verlauf der Scene entwickeln pgo_424.035
muß. Jn Scenen von größerer Bedeutung wird der Schluß ihren

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dramatische Tempo bezeichnen, läßt sich vollständig nur durch einen pgo_424.002
Blick auf das Schachspiel klar machen. Hier kommt es nicht nur darauf pgo_424.003
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am glücklichsten herbeigeführt, wenn er, ähnlich einem Schachräthsel, mit pgo_424.012
logischer Nothwendigkeit in eine bestimmte Zahl von Zügen die letzte pgo_424.013
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Da er Dramatiker seinen Stoff nicht nach Behagen und Laune pgo_424.018
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so wird nicht nur jeder Akt, sondern auch jede Scene sowohl ihre selbstständige pgo_424.021
Bedeutung, als auch eine Bedeutung für den Organismus des pgo_424.022
Ganzen haben müssen. Wie dieser muß jeder Akt und jede Scene pgo_424.023
Anfang, Mitte und Schluß, ihren dialektischen Verlauf haben.

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Die Scene wird durch das Auftreten einer neuen Person bedingt. pgo_424.025
Man hat zwar, nach dem Vorgange der altenglischen Bühne, auch mit pgo_424.026
dem Ausdrucke „Scene“ jede Verwandlung des Theaters bezeichnet, pgo_424.027
mögen nun mehr oder weniger Personen innerhalb derselben auftreten. pgo_424.028
Doch in der Regel gebraucht man Scene und Auftritt in gleicher pgo_424.029
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vollkommen klaren und bestimmten Grund. Die Scene muß äußerlich pgo_424.033
und innerlich motivirt sein. Die auftretende Person bringt ein neues pgo_424.034
Moment in die Handlung, welches sich im Verlauf der Scene entwickeln pgo_424.035
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[424/0446] pgo_424.001 dramatische Tempo bezeichnen, läßt sich vollständig nur durch einen pgo_424.002 Blick auf das Schachspiel klar machen. Hier kommt es nicht nur darauf pgo_424.003 an, daß der richtige Zug gemacht werde, sondern auch, daß er zur pgo_424.004 rechten Zeit geschehe. Derselbe Zug ein Tempo später würde das pgo_424.005 Spiel verlieren, das er ein Tempo früher gewonnen hätte. Ganz pgo_424.006 ebenso verhält es sich im Drama. Es ist nicht gleichgültig, wann eine pgo_424.007 Person in die Handlung eingreift, wann eine oder die andere Scene eingefügt pgo_424.008 wird, wann eine Krise oder Katastrophe eintritt — ein Tempo pgo_424.009 früher oder später macht einen großen Unterschied für die mehr oder minder pgo_424.010 energische Entwickelung der Handlung. Der Schluß des Drama ist pgo_424.011 am glücklichsten herbeigeführt, wenn er, ähnlich einem Schachräthsel, mit pgo_424.012 logischer Nothwendigkeit in eine bestimmte Zahl von Zügen die letzte pgo_424.013 Entscheidung zusammendrängt. Je kühner und überraschender diese letzten pgo_424.014 Züge, desto glänzender die Auflösung des Räthsels und der Abschluß des pgo_424.015 Drama. Die Gliederung des dramatischen Organismus in Akte pgo_424.016 und Scenen kann keine willkürliche sein, sondern nur eine nothwendige. pgo_424.017 Da er Dramatiker seinen Stoff nicht nach Behagen und Laune pgo_424.018 vertheilen darf, sondern seiner innern Schwerkraft gehorchen muß, die den pgo_424.019 Schwerpunkt der Handlung von selbst an eine bestimmte Stelle verlegt: pgo_424.020 so wird nicht nur jeder Akt, sondern auch jede Scene sowohl ihre selbstständige pgo_424.021 Bedeutung, als auch eine Bedeutung für den Organismus des pgo_424.022 Ganzen haben müssen. Wie dieser muß jeder Akt und jede Scene pgo_424.023 Anfang, Mitte und Schluß, ihren dialektischen Verlauf haben. pgo_424.024 Die Scene wird durch das Auftreten einer neuen Person bedingt. pgo_424.025 Man hat zwar, nach dem Vorgange der altenglischen Bühne, auch mit pgo_424.026 dem Ausdrucke „Scene“ jede Verwandlung des Theaters bezeichnet, pgo_424.027 mögen nun mehr oder weniger Personen innerhalb derselben auftreten. pgo_424.028 Doch in der Regel gebraucht man Scene und Auftritt in gleicher pgo_424.029 Bedeutung. Jede auftretende Person muß einen bestimmten in die pgo_424.030 Handlung eingreifenden Zweck haben; es soll in einem Drama keine pgo_424.031 müßigen Scenen geben; es sollen keine Personen auftreten ohne einen pgo_424.032 vollkommen klaren und bestimmten Grund. Die Scene muß äußerlich pgo_424.033 und innerlich motivirt sein. Die auftretende Person bringt ein neues pgo_424.034 Moment in die Handlung, welches sich im Verlauf der Scene entwickeln pgo_424.035 muß. Jn Scenen von größerer Bedeutung wird der Schluß ihren

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/446>, abgerufen am 23.11.2024.