Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_421.001
organische Bildung des Kunstwerkes und die Zwecke des Dramatikers. pgo_421.002
Während unsere Aesthetiker die Technik des altgriechischen und altenglischen pgo_421.003
Theaters, welche auf die Gestaltung des volksthümlichen Drama pgo_421.004
jener Zeit vom allerentschiedensten Einfluß war, mit großer Ausführlichkeit pgo_421.005
behandeln, halten sie es für überflüssig, die Regeln der dramatischen pgo_421.006
Dichtkunst mit Bezug auf die Anforderungen der heutigen Bühne zu entwerfen. pgo_421.007
Und doch sind die Tabulaturen der dramatischen Technik für pgo_421.008
das Drama von nicht geringerer Wichtigkeit, als seine ästhetischen pgo_421.009
Grundgesetze. Wie jede Dichtung hat das Drama nur dann eine pgo_421.010
Zukunft, wenn es sich einmal einer lebensvollen Gegenwart erfreut hat. pgo_421.011
Diese lebensvolle Gegenwart erringt es nur, indem es die Bühne pgo_421.012
beherrscht -- die Herrschaft über die Bühne aber ist abhängig sowohl pgo_421.013
von seinem innern Zusammenhalt, seiner wirkungsvollen Energie, als pgo_421.014
auch von seiner Angemessenheit zu den Einrichtungen des Theaters in pgo_421.015
einer bestimmten Epoche. Man wird diesen Ausspruch alsbald mit dem pgo_421.016
beliebten Gemeinplatz verdammen, daß das dramatische Genie über pgo_421.017
solche scenische Anforderungen erhaben sei, daß es sich selbst seine ideale pgo_421.018
Bühne
schaffe und auch nach dieser Seite hin reformatorisch auftrete. pgo_421.019
Die Geschichte beweist indeß, daß diese Tröstungen unserer verkannten pgo_421.020
dramatischen Genies jedes thatsächlichen Grundes entbehren. Ein recht pgo_421.021
schlagendes Beispiel dafür bietet uns die Geschichte der englischen Literatur. pgo_421.022
Jhr größter Genius, Shakespeare, war weit davon entfernt, von pgo_421.023
den Bedingungen seines Theaters abzusehn. Er acceptirte sie ohne pgo_421.024
jeden Vorbehalt; er trat ganz in die Fußstapfen seiner Vorgänger; er pgo_421.025
huldigte in allen Aeußerlichkeiten dem Zeitgeschmacke; doch selbst die pgo_421.026
Flecken und Schattenseiten, die ihm das Bürgerrecht auf der damaligen pgo_421.027
Bühne erringen halfen, vermochten seinen Ruhm bei der Nachwelt nicht pgo_421.028
zu verdunkeln. Man vergleiche nun mit Shakespeare den reformatorischen pgo_421.029
John Dryden, den Schöpfer der neuern englischen Bühne pgo_421.030
nach der Restauration, der die französischen Muster eines Racine, Corneille pgo_421.031
und den Boileau'schen Codex der aristotelischen Einheiten mit dem pgo_421.032
freieren Schwung der englischen Dramatik zu versöhnen suchte, der als pgo_421.033
scenischer Gesetzgeber dem englischen Theater seine noch heute gültigen pgo_421.034
Jnstitutionen gab. Sein Don Sebastian, Aurong Zeb, Troilus und pgo_421.035
Cressida sind längst vergessen. Wir sehn hieraus, daß ein großes Genie

pgo_421.001
organische Bildung des Kunstwerkes und die Zwecke des Dramatikers. pgo_421.002
Während unsere Aesthetiker die Technik des altgriechischen und altenglischen pgo_421.003
Theaters, welche auf die Gestaltung des volksthümlichen Drama pgo_421.004
jener Zeit vom allerentschiedensten Einfluß war, mit großer Ausführlichkeit pgo_421.005
behandeln, halten sie es für überflüssig, die Regeln der dramatischen pgo_421.006
Dichtkunst mit Bezug auf die Anforderungen der heutigen Bühne zu entwerfen. pgo_421.007
Und doch sind die Tabulaturen der dramatischen Technik für pgo_421.008
das Drama von nicht geringerer Wichtigkeit, als seine ästhetischen pgo_421.009
Grundgesetze. Wie jede Dichtung hat das Drama nur dann eine pgo_421.010
Zukunft, wenn es sich einmal einer lebensvollen Gegenwart erfreut hat. pgo_421.011
Diese lebensvolle Gegenwart erringt es nur, indem es die Bühne pgo_421.012
beherrscht — die Herrschaft über die Bühne aber ist abhängig sowohl pgo_421.013
von seinem innern Zusammenhalt, seiner wirkungsvollen Energie, als pgo_421.014
auch von seiner Angemessenheit zu den Einrichtungen des Theaters in pgo_421.015
einer bestimmten Epoche. Man wird diesen Ausspruch alsbald mit dem pgo_421.016
beliebten Gemeinplatz verdammen, daß das dramatische Genie über pgo_421.017
solche scenische Anforderungen erhaben sei, daß es sich selbst seine ideale pgo_421.018
Bühne
schaffe und auch nach dieser Seite hin reformatorisch auftrete. pgo_421.019
Die Geschichte beweist indeß, daß diese Tröstungen unserer verkannten pgo_421.020
dramatischen Genies jedes thatsächlichen Grundes entbehren. Ein recht pgo_421.021
schlagendes Beispiel dafür bietet uns die Geschichte der englischen Literatur. pgo_421.022
Jhr größter Genius, Shakespeare, war weit davon entfernt, von pgo_421.023
den Bedingungen seines Theaters abzusehn. Er acceptirte sie ohne pgo_421.024
jeden Vorbehalt; er trat ganz in die Fußstapfen seiner Vorgänger; er pgo_421.025
huldigte in allen Aeußerlichkeiten dem Zeitgeschmacke; doch selbst die pgo_421.026
Flecken und Schattenseiten, die ihm das Bürgerrecht auf der damaligen pgo_421.027
Bühne erringen halfen, vermochten seinen Ruhm bei der Nachwelt nicht pgo_421.028
zu verdunkeln. Man vergleiche nun mit Shakespeare den reformatorischen pgo_421.029
John Dryden, den Schöpfer der neuern englischen Bühne pgo_421.030
nach der Restauration, der die französischen Muster eines Racine, Corneille pgo_421.031
und den Boileau'schen Codex der aristotelischen Einheiten mit dem pgo_421.032
freieren Schwung der englischen Dramatik zu versöhnen suchte, der als pgo_421.033
scenischer Gesetzgeber dem englischen Theater seine noch heute gültigen pgo_421.034
Jnstitutionen gab. Sein Don Sebastian, Aurong Zeb, Troilus und pgo_421.035
Cressida sind längst vergessen. Wir sehn hieraus, daß ein großes Genie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0443" n="421"/><lb n="pgo_421.001"/>
organische Bildung des Kunstwerkes und die Zwecke des Dramatikers. <lb n="pgo_421.002"/>
Während unsere Aesthetiker die Technik des altgriechischen und altenglischen <lb n="pgo_421.003"/>
Theaters, welche auf die Gestaltung des volksthümlichen Drama <lb n="pgo_421.004"/>
jener Zeit vom allerentschiedensten Einfluß war, mit großer Ausführlichkeit <lb n="pgo_421.005"/>
behandeln, halten sie es für überflüssig, die Regeln der dramatischen <lb n="pgo_421.006"/>
Dichtkunst mit Bezug auf die Anforderungen der heutigen Bühne zu entwerfen. <lb n="pgo_421.007"/>
Und doch sind die Tabulaturen der dramatischen Technik für <lb n="pgo_421.008"/>
das Drama von nicht geringerer Wichtigkeit, als seine ästhetischen <lb n="pgo_421.009"/>
Grundgesetze. Wie jede Dichtung hat das Drama nur dann eine <lb n="pgo_421.010"/>
Zukunft, wenn es sich einmal einer lebensvollen Gegenwart erfreut hat. <lb n="pgo_421.011"/>
Diese lebensvolle Gegenwart erringt es nur, indem es die Bühne <lb n="pgo_421.012"/>
beherrscht &#x2014; die Herrschaft über die Bühne aber ist abhängig sowohl <lb n="pgo_421.013"/>
von seinem innern Zusammenhalt, seiner wirkungsvollen Energie, als <lb n="pgo_421.014"/>
auch von seiner Angemessenheit zu den Einrichtungen des Theaters in <lb n="pgo_421.015"/>
einer bestimmten Epoche. Man wird diesen Ausspruch alsbald mit dem <lb n="pgo_421.016"/>
beliebten Gemeinplatz verdammen, daß das dramatische Genie über <lb n="pgo_421.017"/>
solche scenische Anforderungen erhaben sei, daß es sich selbst seine <hi rendition="#g">ideale <lb n="pgo_421.018"/>
Bühne</hi> schaffe und auch nach dieser Seite hin reformatorisch auftrete. <lb n="pgo_421.019"/>
Die Geschichte beweist indeß, daß diese Tröstungen unserer verkannten <lb n="pgo_421.020"/>
dramatischen Genies jedes thatsächlichen Grundes entbehren. Ein recht <lb n="pgo_421.021"/>
schlagendes Beispiel dafür bietet uns die Geschichte der englischen Literatur. <lb n="pgo_421.022"/>
Jhr größter Genius, Shakespeare, war weit davon entfernt, von <lb n="pgo_421.023"/>
den Bedingungen seines Theaters abzusehn. Er acceptirte sie ohne <lb n="pgo_421.024"/>
jeden Vorbehalt; er trat ganz in die Fußstapfen seiner Vorgänger; er <lb n="pgo_421.025"/>
huldigte in allen Aeußerlichkeiten dem Zeitgeschmacke; doch selbst die <lb n="pgo_421.026"/>
Flecken und Schattenseiten, die ihm das Bürgerrecht auf der damaligen <lb n="pgo_421.027"/>
Bühne erringen halfen, vermochten seinen Ruhm bei der Nachwelt nicht <lb n="pgo_421.028"/>
zu verdunkeln. Man vergleiche nun mit <hi rendition="#g">Shakespeare</hi> den reformatorischen <lb n="pgo_421.029"/> <hi rendition="#g">John Dryden,</hi> den Schöpfer der neuern englischen Bühne <lb n="pgo_421.030"/>
nach der Restauration, der die französischen Muster eines Racine, Corneille <lb n="pgo_421.031"/>
und den Boileau'schen Codex der aristotelischen Einheiten mit dem <lb n="pgo_421.032"/>
freieren Schwung der englischen Dramatik zu versöhnen suchte, der als <lb n="pgo_421.033"/>
scenischer Gesetzgeber dem englischen Theater seine noch heute gültigen <lb n="pgo_421.034"/>
Jnstitutionen gab. Sein Don Sebastian, Aurong Zeb, Troilus und <lb n="pgo_421.035"/>
Cressida sind längst vergessen. Wir sehn hieraus, daß ein großes Genie
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[421/0443] pgo_421.001 organische Bildung des Kunstwerkes und die Zwecke des Dramatikers. pgo_421.002 Während unsere Aesthetiker die Technik des altgriechischen und altenglischen pgo_421.003 Theaters, welche auf die Gestaltung des volksthümlichen Drama pgo_421.004 jener Zeit vom allerentschiedensten Einfluß war, mit großer Ausführlichkeit pgo_421.005 behandeln, halten sie es für überflüssig, die Regeln der dramatischen pgo_421.006 Dichtkunst mit Bezug auf die Anforderungen der heutigen Bühne zu entwerfen. pgo_421.007 Und doch sind die Tabulaturen der dramatischen Technik für pgo_421.008 das Drama von nicht geringerer Wichtigkeit, als seine ästhetischen pgo_421.009 Grundgesetze. Wie jede Dichtung hat das Drama nur dann eine pgo_421.010 Zukunft, wenn es sich einmal einer lebensvollen Gegenwart erfreut hat. pgo_421.011 Diese lebensvolle Gegenwart erringt es nur, indem es die Bühne pgo_421.012 beherrscht — die Herrschaft über die Bühne aber ist abhängig sowohl pgo_421.013 von seinem innern Zusammenhalt, seiner wirkungsvollen Energie, als pgo_421.014 auch von seiner Angemessenheit zu den Einrichtungen des Theaters in pgo_421.015 einer bestimmten Epoche. Man wird diesen Ausspruch alsbald mit dem pgo_421.016 beliebten Gemeinplatz verdammen, daß das dramatische Genie über pgo_421.017 solche scenische Anforderungen erhaben sei, daß es sich selbst seine ideale pgo_421.018 Bühne schaffe und auch nach dieser Seite hin reformatorisch auftrete. pgo_421.019 Die Geschichte beweist indeß, daß diese Tröstungen unserer verkannten pgo_421.020 dramatischen Genies jedes thatsächlichen Grundes entbehren. Ein recht pgo_421.021 schlagendes Beispiel dafür bietet uns die Geschichte der englischen Literatur. pgo_421.022 Jhr größter Genius, Shakespeare, war weit davon entfernt, von pgo_421.023 den Bedingungen seines Theaters abzusehn. Er acceptirte sie ohne pgo_421.024 jeden Vorbehalt; er trat ganz in die Fußstapfen seiner Vorgänger; er pgo_421.025 huldigte in allen Aeußerlichkeiten dem Zeitgeschmacke; doch selbst die pgo_421.026 Flecken und Schattenseiten, die ihm das Bürgerrecht auf der damaligen pgo_421.027 Bühne erringen halfen, vermochten seinen Ruhm bei der Nachwelt nicht pgo_421.028 zu verdunkeln. Man vergleiche nun mit Shakespeare den reformatorischen pgo_421.029 John Dryden, den Schöpfer der neuern englischen Bühne pgo_421.030 nach der Restauration, der die französischen Muster eines Racine, Corneille pgo_421.031 und den Boileau'schen Codex der aristotelischen Einheiten mit dem pgo_421.032 freieren Schwung der englischen Dramatik zu versöhnen suchte, der als pgo_421.033 scenischer Gesetzgeber dem englischen Theater seine noch heute gültigen pgo_421.034 Jnstitutionen gab. Sein Don Sebastian, Aurong Zeb, Troilus und pgo_421.035 Cressida sind längst vergessen. Wir sehn hieraus, daß ein großes Genie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/443
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/443>, abgerufen am 17.05.2024.